Hintergründe der Nicht-Teilnahme und Teilnahmemotive

Im Folgenden erfahren Sie, was wir in unserem Projekt unter Nicht-Teilnehmenden verstehen, welche Gründe eine Kursteilnahme gering literalisierter Erwachsener verhindern, wie offen gering literalisierte Erwachsene mit ihrer geringen Literalität umgehen und was sie zu einer Teilnahme an einem Alphabetisierungsangebot motivieren würde.

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  • Wer sind Nicht-Teilnehmende? Eine kurze Einführung

    © Projekt DiAnA

    Wenn wir von Nicht-Teilnehmenden im Alphabetisierungskontext sprechen, stellt sich zunächst die Frage, wer überhaupt zu den Nicht-Teilnehmenden zählt. Nicht-Teilnehmende sind gemeinhin all die gering literalisierten Erwachsenen, die nicht an einem Alphabetisierungsangebot teilnehmen. Da Teilnahmen an Alphabetisierungsangeboten aber nicht immer linear verlaufen, sondern auch Kursabbrüche, -unterbrechungen und -wiederaufnahmen zur Normalität gehören, haben wir das Verständnis von Nicht-Teilnahme entsprechend erweitert. Denn auch gering literalisierte Erwachsene, die Alphabetisierungsangebote abgebrochen oder längerfristig unterbrochen haben, verstehen wir grundsätzlich wieder als Adressat*innen, die auf Alphabetisierungsangebote aufmerksam gemacht werden können.

    Als Nicht-Teilnehmende gelten für uns daher alle gering literalisierten Erwachsenen, die ...

    • ... noch nie an einem Alphabetisierungsangebot teilgenommen haben oder
    • ... nach einer Teilnahme und weiterhin bestehender geringer Literalität keine Fortsetzung planen oder
    • ... länger als ein halbes Jahr einem Alphabetisierungsangebot, für das sie angemeldet sind, ferngeblieben sind.

    In Anlehnung an dieses Verständnis von Nicht-Teilnahme stellt sich darüber hinaus die Frage, warum wir in unserem Projekt für eine erfolgreiche digitale Ansprache gering literalisierter Erwachsener speziell die Nicht-Teilnehmenden in den Fokus rücken. Dafür lohnt sich ein Blick in die Forschung.

    Die Gruppe der Nicht-Teilnehmenden stellt nach wie vor die größte Gruppe unter den Menschen mit geringer Literalität dar. Der Alphamonitor konnte für die Volkshochschulen zeigen, dass trotz bundesweiter Informationskampagnen im Jahre 2018, den 6,2 Millionen Menschen mit geringer Literalität nur 74.688 Teilnehmende in Alphabetisierungs- und Grundbildungsangeboten gegenüberstanden (Christ et al. 2019, S. 3). Auch die LEO-Studie stellte 2018 fest, dass weniger als 1% aller gering literalisierten Erwachsenen ein Angebot aus dem Alphabetisierungs- oder Grundbildungsbereich besuchten (Grotlüschen et al. 2020, S. 30). Die Gewinnung und Erreichbarkeit dieser Adressat*innen für die Kursteilnahme stellt somit nach wie vor eine Hürde dar (Grotlüschen 2016a, S. 19), weshalb die „Gewinnung und Aktivierung von gering literalisierten Erwachsenen“ (BMBF 2021, S. 3) weiterhin im Arbeitsprogramm der AlphaDekade als eine zentrale Problemstellung mit hoher Priorität benannt wird. Folglich gewinnt die Frage nach effektiven Ansprachewegen für Menschen mit geringer Literalität an zentraler Bedeutung. Dafür bedarf es allerdings einer genauen Kenntnis der Adressat*innen. Hier kommt jedoch erschwerend hinzu, dass die große Gruppe der Nicht-Teilnehmenden auch für die Forschung schwerer zu erreichen ist als Kursteilnehmende und daher hier in der Vergangenheit häufig unterrepräsentiert blieb (Grotlüschen et al. 2020, S. 19). Des Weiteren bestehen durchaus Diskrepanzen zwischen den Gruppen der Teilnehmenden und der Nicht-Teilnehmenden – so weisen Teilnehmende beispielsweise in der Regel häufiger ein Alpha-Level 2 auf und sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als die Gesamtheit gering literalisierter Erwachsener (Grotlüschen 2016b, S.103; Bremer & Pape 2016, S. 145). Daher ist es für das Forschungsvorhaben des DiAnA-Projekts von besonderer Bedeutung auch bzw. insbesondere die Gruppe der Nicht-Teilnehmenden zu erfassen und mehr über deren Bedingungen für eine gelingende Ansprache zu erfahren. Schließlich sind die Nicht-Teilnehmenden selbst die besten Expert*innen für diese Fragestellung.

    In unseren Interviews haben wir daher auch mit 16 gering literalisierten Nicht-Teilnehmenden gesprochen. Hierbei zeigte sich, dass sieben der Befragten schon einmal an einem Alphabetisierungskurs teilgenommen, diesen jedoch entweder abgebrochen oder nach Kursende trotz weiterhin bestehender geringer Literalität nicht wieder aufgenommen haben.

    Es kann also festgehalten werden, dass die Bezeichnung Nicht-Teilnehmende in unserem Verständnis nicht bedeutet, dass die befragten Personen noch nie Kontakt zu Lernangeboten hatten. Die Zusammensetzung unserer Stichprobe zeigt vielmehr, dass es sich bei der Gruppe der Nicht-Teilnehmenden um eine heterogene Gruppe handelt und inkonstante Teilnahmen und Abbrüche keine Seltenheit sind. Daher bedeutet Ansprache also nicht nur, Personen erstmalig zu erreichen, sie muss auch auf die Wiederaufnahme von Lernangeboten abzielen, um möglichst viele Menschen langfristig als Lernende zu gewinnen und so gering literalisierte Erwachsene dabei zu unterstützen, zu literalisierten Erwachsenen zu werden.

     

    Literatur

    Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2021). Arbeitsprogramm. Anlage zum Grundsatzpapier zur Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung. Zuletzt abgerufen am 14.12.2023 von https://www.alphadekade.de/de/alphadekade/die-alphadekade/die-alphadekade_node.html

    Bremer, H. & Pape, N. (2016). Adressat/inn/en-, Teilnehmenden- und Zielgruppenforschung. In: Löffler, C. & Korfkamp, J. (Hrsg.). Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Münster: Waxmann, S. 144-164.

    Christ, J., Horn, H. & Ambos, I. (2019). Angebotsstrukturen in der Alphabetisierung und Grundbildung für Erwachsene in Volkshochschulen 2018. Ergebnisse der alphamonitor-Anbieterbefragung des DIE.
    Zuletzt abgerufen am 14.11.2023 von http://www.die-bonn.de/id/37090

    Grotlüschen, A. (2016a). Das mitwissende Umfeld funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten: Paradigmenwechsel in der Adressatenforschung. In: Riekmann, W., Buddeberg, K. & Grotlüschen, A. (Hrsg.). Das mitwissende Umfeld von Erwachsenen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen. Münster & New York: Waxmann, S. 11-34.

    Grotlüschen, A. (2016b). Zur Größenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland. In: Löffler, C. & Korfkamp, J. (Hrsg.). Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Münster: Waxmann, S. 144-164.

    Grotlüschen, A., Buddeberg, K., Dutz, G., Heilmann, L., & Stammer, C. (2020). Hauptergebnisse und Einordnung zur LEO-Studie 2018–Leben mit geringer Literalität. In: Grotlüschen, A. & Buddeberg, K. (Hrsg.). LEO 2018: Leben mit geringer Literalität. Bielefeld: wbv-Verlag, S. 13-64.

  • Aus welchen Gründen nehmen gering literalisierte Erwachsene nicht an Alphabetisierungsangeboten teil?

    Nur ein sehr kleiner Teil aller gering literalisierten Erwachsenen findet auch tatsächlich den Weg in einen Kurs. Vor diesem Hintergrund ist besonders interessant, welche Gründe gering literalisierte Erwachsene anführen, nicht an einem Alphabetisierungsangebot teilzunehmen. Die im Rahmen der Interviews befragten Personen haben uns Einblicke in interessante und vielfältige Gründe für ihre Nicht-Teilnahme gegeben.

    Fast die Hälfte der Befragten hat in der Vergangenheit schon einmal einen Alphabetisierungskurs besucht, diesen jedoch entweder abgebrochen oder kein anschließendes Angebot belegt. Die deutliche Mehrheit von ihnen berichtet, dort negative Kurserfahrungen gemacht zu haben, die sie von einer weiteren Teilnahme abhalten. Die Befragten beschreiben insbesondere ein fehlendes Eingehen auf individuelle Lernbedarfe und -interessen vor dem Hintergrund von sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Lernständen der jeweiligen Kursteilnehmenden. Des Weiteren hat ein Teil der Befragten sich aufgrund von negativen Erfahrungen mit anderen Kursteilnehmenden im Kurs nicht wohlgefühlt. Einige Personen mit nicht-deutscher Erstsprache berichten zudem, dass sie bereits ein Lernangebot ohne Alphabetisierungsausrichtung besucht haben, das sie überfordert hat. Die Befragten benennen diese Erfahrung zwar nicht explizit als Grund, nicht auch noch einmal ein Alphabetisierungsangebot zu besuchen, sie heben die Teilnahme jedoch deutlich als negative Lernerfahrung hervor, sodass davon auszugehen ist, dass auch eine grundsätzliche Teilnahmebereitschaft hierdurch beeinflusst werden kann.

    Einige Befragte geben darüber hinaus an, dass sie keine ausreichenden Ressourcen in ihrem Alltag haben, um an einem Kurs teilzunehmen. In diesem Zusammenhang benennen sie, dass ihnen aufgrund von Kinderbetreuung die Zeit für eine Kursteilnahme fehlt oder sie nach der Arbeit zu erschöpft sind. Auch gesundheitliche oder psychische Belastungen bei sich selbst, oder bei nahestehenden Personen, werden als Faktoren benannt, die die Kapazitäten der Befragten einschränken und eine Kursteilnahme verhindern.

    Einige der Personen, die in der Vergangenheit schon einmal einen Kurs besucht haben, sprechen außerdem Umbrüche als Grund für eine Nicht-Fortsetzung ihrer Teilnahme an. Dazu zählen Umbrüche durch Umzüge, aber auch durch Familiengründungen. In diesen Fällen konnten Übergänge in neue Angebote offenbar nicht sichergestellt werden.

    Darüber hinaus lässt sich in einigen Fällen eine erkennbare Passivität als Hinderungsgrund für eine Teilnahme feststellen. Diese Befragten würden grundsätzlich an einem Kurs teilnehmen, wünschen sich aber, dass sie dafür aktiv und direkt angesprochen werden würden. Es fehlt Ihnen also vielleicht an Informationen oder Zutrauen, die Anmeldung zu einem Kurs selbst in die Hand zu nehmen.

    Weiterhin wird deutlich, dass einzelne Befragte von grundsätzlich unzutreffenden Kursvoraussetzungen und Rahmenbedingungen ausgehen. Sie nehmen an, es gebe nur Abendkurse, es bestehe Anwesenheitspflicht oder etwa, dass es nur Kurse für Ausländer*innen gebe. Darüber hinaus zeigt sich, dass insbesondere Befragte mit nicht-deutscher Erstsprache im Kontext von Alphabetisierungskursen häufig auch über andere Kursformate wie Sprachkurse, Integrationskurse und Kurse für nachholende Schulabschlüsse sprechen. Der besondere Fokus von Alphabetisierungskursen scheint in diesen Fällen nicht immer deutlich zu sein.

    Als weitere Gründe für eine Nicht-Teilnahme, die vereinzelt benannt werden, lassen sich außerdem unpassende Rahmenbedingungen der Kurse, die Priorisierung einer Berufstätigkeit, um Geld zu verdienen, die Angst vor negativen Reaktionen anderer Kursteilnehmender sowie die fehlende Notwendigkeit eines Kursbesuchs anführen.

    Insgesamt lässt sich festhalten, dass gering literalisierte Erwachsene sich aus unterschiedlichen Gründen gegen eine Kursteilnahme entscheiden. Die Gründe lassen sich dabei in drei Bereiche zusammenfassen: in der Vergangenheit liegende Teilnahmeerfahrungen, aktuelle Lebensumstände sowie individuelle Einstellungen und Präferenzen.

     

    Einblicke in die Interviews

  • Wie offen gehen gering literalisierte Erwachsene mit ihrer geringen Literalität um?

    © Projekt DiAnA

    Wenn gering literalisierte Erwachsene in sozialen Kontexten, beispielsweise beim Behördengang oder beim Ärzt*innenbesuch, auf schriftliche Anforderungen stoßen, steht die Frage im Raum, wie offen die eigene geringe Literalität angesprochen wird. Die Mehrheit der Nicht-Teilnehmenden hat uns in den Interviews auch davon berichtet.

    Rund die Hälfte der befragten Personen gibt an, einen offenen Umgang mit ihrer geringen Literalität zu pflegen und diese nicht zu verbergen.

    Des Weiteren berichtet ein Teil der befragten Personen, dass sie Hilfe von Mitarbeitenden aus Institutionen und Behörden in Anspruch nehmen, um schriftliche Anforderungen zu bewältigen. Damit geben sie gegenüber diesen Personen ihre geringe Literalität preis. In der Regel geschieht dies durch gering literalisierte Erwachsene, die einen insgesamt offenen Umgang berichten, aber auch durch Personen, die nicht angeben, offen mit ihrer geringen Literalität umzugehen. So berichtet eine befragte Person beispielsweise davon, in ihrem engeren Umfeld niemandem von ihrer geringen Literalität zu erzählen, im Schulkontext des Kindes aber, etwa, wenn dieses eine schriftliche Entschuldigung benötigt, offen damit umzugehen. Somit wird deutlich, dass einige Befragte kontextabhängig entscheiden, ob sie anderen Personen von ihrer geringen Literalität erzählen.

    Eine vollständige Geheimhaltung der geringen Literalität wird demgegenüber lediglich von einzelnen Personen benannt. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass durchaus davon auszugehen ist, dass diese Gruppe vermutlich seltener zu Interviews bereit ist und damit auch in unserer Stichprobe seltener vertreten war.

    Des Weiteren lässt sich eine Tendenz zu einem geheimhaltenden Umgang eher unter Personen mit deutscher Erstsprache erkennen. In unserer Stichprobe wird eine vollständige Geheimhaltung nur von Personen mit deutscher Erstsprache berichtet. Auch in unseren Interviews mit gering literalisierten Kursteilnehmenden, die wir im Rahmen des Projekts geführt haben, berichten ausschließlich Personen mit deutscher Erstsprache von Strategien, aus Scham ihre geringe Literalität zu verbergen.

  • Was würde gering literalisierte Erwachsene zur Teilnahme an einem Alphabetisierungsangebot motivieren?

    © Projekt DiAnA

    Die deutliche Mehrheit der gering literalisierten Erwachsenen nimmt nicht an Angeboten zur Alphabetisierung teil. Doch was könnte sie dazu motivieren? Welche Hoffnungen und Erwartungen verbindet diese Zielgruppe mit einer potenziellen Kursteilnahme? Auch diesen Fragen sind wir nachgegangen.

    Die in unseren Interviews befragten gering literalisierten Erwachsenen benennen die Verbesserung ihrer Lebensqualität, die Verbesserung ihrer beruflichen Perspektiven und bessere Unterstützungsmöglichkeiten der eigenen Kinder als zentrale Motive, ein Angebot zu besuchen.

    Die Erwartung einer allgemeinen Verbesserung der Lebensqualität wird von fast allen Befragten geäußert und umfasst insbesondere den Wunsch nach weniger Abhängigkeit und weniger Hilfebedarf in Zusammenhang mit dem Lesen und Schreiben im Alltag. Die Befragten möchten z.B. selbstständig wichtige Schriftstücke bzw. die eigene Post bearbeiten oder sich freier im öffentlichen Personennahverkehr oder auch digital im Internet bewegen können, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein. Des Weiteren gehen vereinzelte Personen davon aus, dass sie sich nach einer erfolgreichen Kursteilnahme insgesamt besser fühlen würden oder sich nicht länger verstecken müssten.

    Einige der Befragten benennen als weiteres Motiv für eine mögliche Teilnahme, dass diese ihre beruflichen Aussichten verbessern könnte, z.B. um überhaupt eine berufliche Tätigkeit aufnehmen oder die aktuelle berufliche Position verbessern zu können.

    Die eigenen Kinder besser beim Lesen und Schreiben unterstützen zu können, wird nur von einer Person explizit als Motiv angegeben. Jedoch berichten in den Interviews mehrere Befragte, dass sie ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen können und heben dies als problematisch hervor. Dies kann also ebenfalls ein potenzielles Motiv zur Teilnahme an einem Alphabetisierungsangebot darstellen.

    Insgesamt würden sich gering literalisierte Erwachsene von einer Teilnahme an einem Alphabetisierungsangebot also vielfältige Verbesserungen ihres Alltags und ihrer Lebenssituation erhoffen. Dabei sticht insbesondere der Wunsch nach einer größeren Selbstständigkeit im Umgang mit schriftsprachlichen Anforderungen als zentrales Motiv hervor.

Das zugrunde liegende Forschungsprojekt wurde im Rahmen der Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen W1477FO gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor*innen.

© AlphaDekade, BMBF