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Interview

„Händler waren rechtliche Akteure, die die antike Welt prägten“

Der Mittelmeerhandel im Römischen Reich ist ein Paradebeispiel für Rechtsvielfalt – Interview mit Emilia Mataix Ferrándiz

Dr. Emilia Mataix Ferrándiz
© khk

Unter welchen Bedingungen haben Menschen in der Antike miteinander Handel getrieben? Wie trafen sie Vereinbarungen, wie schufen sie gegenseitiges Vertrauen und welches Recht wandten sie dabei an? Dr. Emilia Mataix Ferrándiz beschreibt das Mittelmeer in römischer Zeit als einen pluralen Rechtsraum, der nicht nur das römische Recht kannte, sondern auch viele ältere Rechtstraditionen und dazu unzählige lokale Gebräuche, Gewohnheitsrechte und soziale Normen. Sie plädiert daher dafür, den Blick zu weiten: weg von staatszentrierten Ansätzen und hin zur Vielfalt der subalternen Akteure wie Seefahrer, Händler, Schmuggler und Piraten, die alle am maritimen Handel beteiligt waren. Im Interview erläutert sie ihren Ansatz und zeigt auf, wie Rechtsvielfalt uns alle tagtäglich betrifft.

Frau Dr. Mataix Ferrándiz, Sie beschreiben das Mittelmeer in der Römerzeit als einen Ort der Rechtsvielfalt, an dem zahlreiche staatliche und nichtstaatliche Akteure mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund miteinander interagierten. Könnten Sie das näher erläutern?

Vielen Dank für Ihre Frage. Wenn ich den antiken Mittelmeerraum als Ort rechtlicher Vielfalt beschreibe, beziehe ich mich auf eine Kernfrage des normativen Pluralismus: das Verhältnis zwischen Normen und Praktiken sowie die Unterscheidung zwischen verschiedenen normativen Registern, also was in einem bestimmten Kontext als „Recht“ bezeichnet wird und was als Brauch oder soziale Norm. In meiner Forschung untersuche ich dieses Phänomen aus drei verschiedenen (ihrerseits miteinander verflochtenen) Blickwinkeln, die alle in einem Forschungsschwerpunkt zusammenlaufen: dem römischen Handel.

Erstens ist allgemein bekannt, dass die Römer den Mittelmeerraum eroberten und ihre Herrschaft somit in Gebieten ausbauten, in denen andere Rechtssysteme vorherrschten, wie das hellenistische, hebräische usw. Diese Rechtstraditionen verschwanden nicht unter der römischen Herrschaft, sondern wurden in Koexistenz mit dem römischen Recht weiter angewandt. Zweitens unterschieden sich in diesen unterschiedlichen kulturellen und rechtlichen Kontexten von Gebiet zu Gebiet auch weitere Normen wie Gebräuche und soziale Gepflogenheiten, die sich auf einige konkrete Bereiche der Rechtspraxis wie den Handel auswirken konnten, der auf einer länderübergreifenden und gewohnheitsmäßigen Tradition beruht. Nicht zuletzt ist zu bedenken, dass uns eine hierarchische Gliederung der Rechtsquellen selbstverständlich erscheint, der römischen Tradition aber völlig fremd war. So treten Gebräuche und gesellschaftliche Praktiken als wirkmächtige Quellen auf, die gewaltigen Einfluss darauf haben konnten, wie Menschen untereinander Vereinbarungen trafen oder Vertrauen aufbauten. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, über den Diskurs nachzudenken, wie die Menschen ihre Vereinbarungen gültig, effizient und durchsetzbar machten.

In Ihrem Forschungsprojekt wollen Sie Rechtsgeschichte mit Third World Approaches to International Law (TWAIL) zusammenbringen. Worum geht es bei diesen Ansätzen und inwiefern können sie neue Erkenntnisse über die antike Geschichte liefern?

Third World Approaches to International Law ist eine kritische Schule der Völkerrechtswissenschaft, die durch eine erneute Untersuchung der kolonialen Grundlagen des Völkerrechts Aspekte der Unterdrückung im Völkerrecht aufdecken will. Mit der Anwendung dieses Ansatzes auf die Untersuchung des antiken römischen Handels verfolge ich zwei Ziele: Zum einen möchte ich der Dichotomie Zentrum/Peripherie entkommen, die durch die von Wissenschaftlern wie Mitteis propagierten Begriffe „Reichsrecht“ und „Volksrecht“ gestützt wird, wenn man das römischen Recht dem Provinzialrecht gegenüberstellt. Diese Konzepte zeugen von einer intensiven Beschäftigung mit Vereinheitlichung und dem Modell eines geordneten, zentralisierten Staates, in dessen übergreifendes Rechtssystem die Rechtssysteme seiner Untertanen eingegliedert werden sollten, und sie hatten nachhaltigen Einfluss darauf, wie das römische Recht und das Römische Reich im Europa des 19. Jahrhunderts gesehen wurden. Zum anderen möchte ich den Handel im Mittelmeerraum als eine Geschichte untersuchen, in der der Staat nicht als einziger Legitimationsgeber auftritt, sondern als ein Akteur unter vielen – in einem vielstimmigen und pluralistischen rechtlichen Umfeld, in dem sich eine Vielzahl religiöser Gesetze, Gebräuche und Rechtskulturen überkreuzte. So können wir die Geschichte des römischen Handels und des Seerechts durch provinzielle und subalterne Seeleute, Händler, lokale Behörden und Piraten erfahren – nicht als Despoten, Schmuggler oder Kriminelle, sondern als rechtliche Akteure, die die antike Welt prägten. Noch wichtiger: Diese Perspektive fordert dazu auf zu überdenken, in welcher Weise die Begegnungen im Mittelmeer nicht nur unsere Vorstellung von Handel und Reisen, sondern auch von Recht, Ordnung, Herrschaft und Macht geprägt haben.

Die mediterrane Welt als Ort der Rechtsvielfalt und der vielfältigen Rechtssysteme bietet alternative Maßstäbe, Register und Perspektiven für die Analyse des Rechts, der rechtlichen Akteure und Institutionen. Indem ich den Fokus über den Staat oder die römische Rechtsperspektive hinaus auf die Provinzen und die einzelnen Akteure ausdehne, kann ich mich mit Themen wie Identität, Rechtsvielfalt, der Herrschaft über das Meer oder menschlicher Interaktion mit der physischen Umwelt befassen, die alle auf das Meer als Hauptszenario ausgerichtet sind.

Die meisten Quellen aus der Römerzeit vermitteln eine „Top-Down-Perspektive“. Mit welchen Quellen arbeiten Sie und wie gelingt es Ihnen, die Handlungen der subalternen Akteure zu identifizieren?

Mein Projekt untersucht das Recht von Grund auf und fragt, ob, wie und in welchem Umfang die römischen Untertanen sich des römischen Rechtssystems bedienten. Es wird gemeinhin davon ausgegangen, dass der Handel durch vom Staat vorgegebene und von den Praktikern akzeptierte rechtliche Vorschriften und Verfahren geregelt wird. In der Realität des Handels bewegen sich die Händler in einem Umfeld, in dem verschiedene Rechtssysteme, informelle Normen, Konventionen und Gebräuche gleichzeitig bestehen und sich vermischen. Häufig werden diese nicht von der Obrigkeit, sondern über soziale Sanktionen durchgesetzt (vom Meiden über Klatsch bis zum Boykott). Darüber hinaus werden diese Transaktionen durch den Willen und die Handlungen der beteiligten Parteien bestätigt. Diese Art, Handel zu treiben, ist in fast allen großen vormodernen Gesellschaften verbreitet, wie es die römische ist. Sie haben in der Regel mit schwachen formellen Institutionen und fehlenden Durchsetzungsmöglichkeiten zu kämpfen und sind daher in hohem Maße darauf angewiesen, dass auferlegte formelle Institutionen übernommen und an bereits bestehende lokale Praktiken und Regeln angepasst werden.

Ölprobe aus der Flussablagerung der Rhone bei Arles, erstes Jahrhundert n. Chr.
Ölprobe aus der Flussablagerung der Rhone bei Arles, erstes Jahrhundert n. Chr. (Reproduktion mit Genehmigung des Musée départementale Arles antique)
© privat

Meine Forschung stützt sich auf das Studium von Text- und Sachquellen, um die gestellten Fragen zu klären. Das Material, das sich aus dem Handel ergibt (z. B. Infrastruktur, Behältnisse), sowie das, was die Händler als die Prinzipien betrachten, die ihre Transaktionen regeln, sind in größere Strukturen menschlicher Erfahrung und Bedeutung eingebettet. Beide geben Auskunft darüber, wie der Handel im kulturübergreifenden Umfeld funktionierte. Auf diese Weise lassen sich die Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren des Handels nachvollziehen, beispielsweise der staatlichen Behörden, die den Verkehr in den Häfen kontrollieren, oder der Händler, die ihre Krüge beschriften und die Details ihrer Vereinbarungen in diesen Toninschriften angeben. Die Ölprobe etwa, die ich hier abgebildet habe, spiegelt mehrere Elemente des Produkts, seiner Eigenschaften und seiner Vertriebswege wider. Sie gibt Aufschluss darüber, wie die Händler Vereinbarungen getroffen und darin Verbindlichkeiten festgelegt haben. Auch wenn schriftliche Rechtsquellen hier einen Kontext liefern können, müssen wir bedenken, dass in der Handelswelt der Römer viele Vereinbarungen nicht schriftlich, sondern mündlich getroffen wurden und Vertrauen daher eine große Rolle spielte. In diesem besonderen Umfeld werden Handelspraktiken verständlich, da die Handelsakteure begannen, ihren Nutzen anzuerkennen sowie die Werte, die hinter einer Praxis stehen, die sozialen Konzepte, mit denen sie stillschweigend verbunden war, ihre Verwendungsmöglichkeiten in einer bestimmten Kultur, ihre Grenzen und die Bedeutungen, die ihr von verschiedenen Gruppen beigemessen wurden. Erst mit diesem tiefer gehenden Verständnis näherten sich die Konzepte für den kulturübergreifenden Handel der gegenseitigen Verständlichkeit an, wenn sie diese auch selten erreichten.

„Die Menschen hatten ihre eigenen, lokalen Vorstellungen davon, was Recht war“

Das mare nostrum war die zentrale Drehscheibe des Römischen Reichs. Militärisch hatten die Römer es bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. befriedet. Mit welchen Mitteln haben sie versucht, ihr Recht auf See durchzusetzen, und warum ist es ihnen nicht gelungen?

Das ist eine sehr knifflige und komplexe Frage. Zunächst einmal ja, angeblich hatten die Römer das Mittelmeer im 1. Jahrhundert v. Chr. befriedet, vor allem wenn man an die Erzählungen von Augustus in seinen Res Gestae denkt, einem typischen Dokument politischer Propaganda. Doch selbst wenn sie die Piraterie gezielt bekämpften, verschwindet diese im Laufe der Geschichte nie ganz, sondern ist je nach gesellschaftlicher und politischer Lage in einem bestimmten Gebiet mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Außerdem geht die Pirateriegefahr nicht mehr von größeren Gruppen aus, sondern wird während der Kaiserzeit auf die lokale Ebene beschränkt.

Um konkreter auf Ihre Frage zu antworten: Ich denke, wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir Begriffe wie Rechtsdurchsetzung oder gar Rechtsstaatlichkeit (rule of law) auf die römische Zeit anwenden. Wie wir wissen, setzen diese in ihrer grundlegendsten Form voraus, dass sowohl die Regierung als auch die Bürger die Gesetze kennen und sie befolgen. Im Römischen Reich war die Informationslage alles andere als ideal. Daher bezweifle ich, dass viele Menschen wussten, wie das Recht lautete, oder sie hatten gar ihre eigenen, lokalen Vorstellungen davon, was Recht überhaupt war oder was in ihrem Umfeld funktionierte (das Babatha-Archiv aus der römischen Provinz Judäa ist hier ein wichtiges Beispiel). In diesem Zusammenhang müssen wir verstehen, dass viele Menschen im Mittelmeerraum über Jahrhunderte hinweg von bestimmten Praktiken wie der Plünderung lebten und dass diese Praktiken in ihren lokalen Gemeinschaften als rechtmäßig angesehen wurden, selbst wenn die Römer sie bekämpften. Es gibt in den Digesten Justinians (D: 47.9.10) einen Text von Ulpian, einem Rechtsgelehrten aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., in dem er beschreibt, wie die Überwachung durch den Provinzvorsteher helfen sollte, die lokalen Fischer daran zu hindern, mit Lichtern Schiffe an die Küste und in den Schiffbruch zu locken. Selbst wenn die Römer den Frieden im Mittelmeer bewahren wollten, sie konnten nicht jeden Winkel eines so großen Reichs kontrollieren (und es ist auch nicht klar, ob sie das überhaupt wollten). Also überlebten einige alte Seefahrerbräuche wie das ius naufragii lange Zeit.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass wie in den meisten antiken Reichen der Grundsatz des Rechts in der römischen Welt einem persönlichen und keinem territorialen Prinzip folgte. Das römische Recht war also für die römischen Bürger geschaffen und wurde von ihnen angewendet. Offensichtlich hatten römische Bürger und Ausländer Umgang miteinander, aber dass es auf das persönliche Prinzip ankam, macht es schwieriger, einen gesetzlichen Rahmen aufzustellen, den alle befolgen und kennen sollten. Über diese Phänomene spreche ich in meinem neuen Buch ‚Gone under Sea. Shipwrecks, Legal Landscapes and Mediterranean Paradigms‘, das demnächst bei Brill erscheinen wird

Im europäischen Mittelalter führte der grenzüberschreitende Handel zu den Anfängen der Rechtsharmonisierung, z. B. in den oberitalienischen Städten oder in der Hanse. Braucht der Handel gemeinsame Regeln oder zeigt das römische Beispiel das Gegenteil?

Meiner Meinung nach zeigt das römische Beispiel, dass der Handel in der Tat funktionierte, da die Händler neben den im Römischen Reich verfügbaren institutionellen Instrumenten verschiedene Systeme einführten, durch die sie Vertrauen ermöglichten. In den Texten der Digesten kann man erkennen, dass das römische Recht sehr ausgefeilte Lösungen in alltäglichen Handelsfragen bot. Der Handel während der Römischen Kaiserzeit entwickelte sich jedoch unter unvollkommenen staatlichen Durchsetzungsbedingungen bei privaten Verträgen. Die römische Regierung war nicht in der Lage, ihre polizeiliche Macht zu nutzen, um alle nach den Regeln ihres Rechtssystems geschlossen privaten Verträge zu erzwingen. Ein großer Teil der Rechtsprechung stützte sich daher auf nicht-imperiale Institutionen, die für die Lösung von Konflikten und Problemen unerlässlich erschienen. Die Städte boten einen Teil dieses institutionellen Schutzes, der durch zertifizierte Gewichte und Maße, die überall im Reich variieren konnten, Vertrauen schuf. So stützt sich Handel teils auf abstrakte Vertrauenssysteme wie standardisierte Messungen, feste Praktiken oder Technologien, deren ständige Anwendung und offensichtlich stabile Merkmale den Menschen einen Umgang miteinander ermöglichen, „als ob“ sie einander vertrauen. Abstrakte Vertrauenssysteme tragen dazu bei, Menschen mit unterschiedlichem sozio-rechtlichem Hintergrund die Praktiken verständlich zu machen.

Zusammengefasst: Ja, Händler führten gemeinsame Praktiken ein, die Vertrauenssysteme schufen, z. B. die Verwendung systematischer Kürzel auf Behältnissen oder Praktiken, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gilde ergeben. So konnten sie zusammenarbeiten und Kontakte aufbauen. Damit sind wir wieder bei der Frage nach dem normativen Pluralismus angelangt: Gelten all diese Praktiken und Handelsbräuche als Recht? Oder was wird in einem bestimmten Kontext als Recht angesehen?

Römisches Handelsschiff (Detail eines Mosaiks aus dem 3.-4. Jh. n. Chr., Badisches Landesmuseum Karlsruhe)
© Carole Raddato (CC BY-SA 2.0)

„Materielle Symbole waren entscheidend in der Förderung von Vertrauen zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen.“

Mit Ihrem Fokus auf das Mittelmeer möchten Sie auch einen Beitrag zur Frage nach den Rezeptionswegen des römischen Rechts leisten. Können Sie schon eine Theorie aufstellen, wo wir umdenken müssen?

Nun, ich würde nicht sagen, dass mein Projekt konkret über vergleichendes Recht oder Rezeption nachdenken will. Der Handel ist in hohem Maße ein Feld der Praxis und der Gebräuche, und viele der Risiken des Seehandels verschwinden erst im Industriezeitalter (einige bestehen noch heute). Daher möchte ich in meinem Projekt bestimmte Praxisdiskurse beleuchten, um zu sehen, wie Händler Systeme der Rechtsverständlichkeit schufen, wenn sie sich in verschiedenen rechtlich pluralen Kontexten bewegten. Mit diesem Fokus auf der Praxis und dem „Sich-Verstehen“ (letzteres ist das Schlüsselkonzept von Owensby und Ross in ihrem Buch ‚Justice in a New World: Negotiating Legal Intelligibility in British, Iberian, and Indigenous America‘) lassen sich die in diesem Projekt untersuchten Phänomene mit anderen historischen Kontexten vergleichen, in denen Rechtsvielfalt herrscht (z. B. britische Kolonien, niederländisches Kolonialreich).

Gerade im Hinblick auf den interkulturellen Dialog ist es wichtig, die Betrachtung weg von einem impliziten Rechtsverständnis und der Erforschung der symbolischen, eigenständigen und inneren Logik nichtstaatlicher Rechtssysteme hin zu Differenzierungsprozessen zwischen verschiedenen Norm- und Regelungsmodi zu lenken. Mein Projekt nimmt die Akteure in den Blick, um die verschiedenen am Handel beteiligten Subjekte zu betrachten. Es berücksichtigt explizit den in der Archäologie im Mittelpunkt stehenden Einfluss von Objekten auf die menschliche Wahrnehmung und veranschaulicht die Rolle materieller Symbole als entscheidend in der Förderung von Vertrauen zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen. Wenn technologische Veränderungen bei Waren oder Infrastrukturen zu wirtschaftlichen Veränderungen führen, wirken sich diese wiederum auf den rechtlichen Rahmen aus, der die Handelsbeziehungen regelt. Nur ein Beispiel: Die römische Vorgehensweise, Waren an Mautstellen anzumelden und dort zu entladen, wo der Verlader es wünschte, unterschied sich stark von der griechischen Praxis, die eine Verpflichtung zur Entladung an behördlich festgelegten Punkten vorsah. Letzteres ist in einigen Rechtsdokumenten wie Steuergesetzen (z. B. im Zollgesetz von Asien oder im Monumentum Ephesenum) bezeugt, aber auch in archäologischen Zeugnissen aus Gebieten wie Gallien (in der Provinz Narbonensis) oder Ägypten (Berenike, Koptos). Diese Materialien zeugen zwar von lokalen Besonderheiten, doch ihre gemeinsame Bedeutung im Rahmen der Handelspraktiken ermöglichte den Menschen miteinander zu interagieren, Codes zu wechseln oder Praktiken zu kombinieren, um in einem bestimmten Geschäftsvorgang das zu bekommen, was sie wollten. Letzteres impliziert, dass die Analyse der Auswirkungen materieller Veränderungen in Bezug auf Rechtsgeschäfte ein breites Spektrum sozialer Phänomene aufdeckt, die auch in anderen historischen Kontexten wahrgenommen werden können, z. B. die Auswirkungen staatlicher Macht, die Rolle von Gruppenpraktiken oder die Identität der Akteure, die mit Objekten und Infrastrukturen interagieren.

Bevor Sie nach Münster kamen, haben Sie an vielen Universitäten in ganz Europa geforscht. Haben Sie ein Beispiel, bei dem Sie im eigenen Alltag Rechtsvielfalt erlebt haben?

Wir alle bewegen uns jeden Tag in rechtlich pluralen Kontexten, wo auch immer wir uns befinden, insbesondere wenn man Rechtsvielfalt als Pluralität von Normen betrachtet. Denken Sie an all die Regeln und Normen, denen ich an einem normalen Morgen auf meinem Arbeitsweg zur Universität begegne. Nach diversen Morgenroutinen wie Zähneputzen oder Kaffeetrinken bin ich ins Büro gelaufen und habe dabei die westfälische Straßenverkehrsordnung be- oder missachtet, mich an die örtlichen Verkehrsregeln gehalten (vor allem die Fahrradregeln), über die Parkvorschriften der Universität gemeckert, Kollegen und Studierende gegrüßt, das Rauchverbot der Universität respektiert und in den Fluren eine Maske getragen, wie es die Universität derzeit vorschreibt. Ich habe bei der Durchsicht der Post und beim Starten meines Computers komplexe Anweisungen befolgt. Vielleicht hat mich ein Rundschreiben der Zentralverwaltung über ein bestimmtes Vorgehen der Universität beunruhigt, oder ich habe darüber nachgedacht, wie ich es bei diesen komplizierten Regeln schaffe, dass der Bibliotheksausweis funktioniert. Beim Verfassen einer E-Mail habe ich die englischen Grammatik- und Rechtschreibregeln akzeptiert oder vor ihnen kapituliert und vielleicht sogar das Oxford-Wörterbuch konsultiert. Und da rede ich noch nicht einmal von den geflügelten „ungeschriebenen Regeln“, die wir alle in unserem Beruf erleben. Der akademische Bereich ist ein Paradebeispiel, da hier viele Praktiken gekünstelt sind. Einige Formen der Interaktion sind an konkrete Kontexte gebunden. Die Einhaltung dieser ungeschriebenen Regeln wirkt sich darauf aus, wie man in akademischen Kreisen wahrgenommen wird, und somit darauf, ob Ranghöhere der Meinung sind, dass eine Person Hierarchien respektiert und man ihr vertrauen kann. Das reicht von der Art, wie man eine E-Mail schreibt, bis dahin, wie man mit anderen umgeht oder Professoren anredet, die in der Hierarchie weiter oben stehen. Kurz gesagt sind wir alle tagtäglich mit normativem Pluralismus konfrontiert. Diese gesellschaftliche Tatsache lässt sich kaum leugnen.

Das Interview mit Emilia Mataix Ferrándiz wurde auf Englisch geführt. Den Originalwortlaut können Sie hier nachlesen.

Die Fragen stellte Lennart Pieper.

Über die Autorin

Dr. Emilia Mataix Ferrándiz ist promovierte Archäologin und Rechtswissenschaftlerin. Sie ist Expertin für römisches Handelsrecht der Antike und forscht derzeit als Fellow am Kolleg.