„Die Religionsfreiheit wird unterschätzt“

Interview von Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems bei n-tv

Interview Ulrich Willems

Prof. Dr. Ulrich Willems

© Julia Holtkötter

Über die religiös motivierte Beschneidung von Jungen hat Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems mit dem Fernsehsender n-tv gesprochen. Das Interview trägt den Untertitel „Ein Gespräch über Gott, die Welt, beschnittene Jungs“.

So schnell wie beim Thema Beschneidung waren sich Regierungsparteien und Opposition lange nicht mehr einig. Ist der Einfluss von jüdischer und muslimischer Gemeinschaft auf die Politik derart groß?

Die Organisations- und Konfliktfähigkeit muslimischer Verbände in Deutschland ist noch so begrenzt, dass sie nicht ausreichend Druck auf die Politik erzeugen können. Mit Blick auf den Zentralrat der Juden könnte man das anders beurteilen. Dennoch glaube ich nicht, dass das der Grund für die Eile ist. Der Einfluss religiöser Gruppen in Deutschland wird überschätzt.

Woran liegt es dann?

Man sollte sich ansehen, was geschehen ist: In 60 Jahren Bundesrepublik war die religiöse Beschneidung kein Problem. Und nun vertritt ein Landgericht die Meinung, dass in der Abwägung zwischen Elternrecht, Religionsfreiheit und körperlicher Unversehrtheit die Entscheidung eindeutig zu Gunsten der körperlichen Unversehrtheit zu fällen sei. Das ist hochdramatisch. Die Politik hat eingesehen, welche einschneidenden Konsequenzen das für das jüdische und muslimische Leben in Deutschland hat. Viele Krankenhäuser und Ärzteverbände sagen, sie würden die Beschneidung wegen der neuen Rechtsunsicherheit nicht mehr durchführen.

Ist es nicht trotzdem erstaunlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Sache sieht wie das Kölner Landgericht? Laut Umfragen befürwortet rund die Hälfte der Deutschen ein Beschneidungsverbot.

Das ist im Wesentlichen eine Folge des Versagens der Politik. Die Bevölkerung ist verunsichert, weil sie sich mit einer zunehmenden religiösen Vielfalt konfrontiert sieht. Neue theologische Fakultäten, Kopftuch-Debatten, Moscheebauten - neue religiöse Gruppen fordern ein gleiches Recht auf Religionsfreiheit ein. Vielfach nimmt die Bevölkerung all das so wahr, als müsse allein sie sich an andere Religionen anpassen. Über den Umgang mit der wachsenden religiösen Pluralität hat es nie eine Debatte gegeben. Religionspolitik war stets eine Sache politischer Eliten und von Gerichtsentscheidungen, sie ist noch nicht zum Gegenstand einer wirklich öffentlichen Debatte geworden. Das sollte sich ändern. Aber auch Teile der Medien haben zu dieser ablehnenden Haltung durch ihre Berichterstattung beigetragen, indem sie die Komplikationen nach der Beschneidung des vierjährigen Jungen übermäßig dramatisiert haben.

Das ganze Interview: „Die Religionsfreiheit wird unterschätzt“ (Prof. Dr. Ulrich Willems, in: n-tv online vom 21. Juli 2012)