(C22) Transzendente Sinnstiftung und religiöse Vergemeinschaftung im nachmodernen Europa

C22 Gott In Deutschland
„Gott in Deutschland“
© Stern 40/1962

Die Religionsgeschichte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weist eine eigentümliche Entwicklung auf: Zum einen haben mit Blick auf Deutschland wie auf große Teile Westeuropas die christlichen Großkirchen an innerer Kohärenz verloren. Auf der anderen Seite begegnet jedoch ein vitales Interesse an Fragen der Religion, vor allem im Hinblick auf öffentliche Debatten. Wissenschaftler, Journalisten und nicht zuletzt auch Politiker haben die Religion als Thema wieder neu entdeckt und verweisen gern auf einen wieder erwachten Hang zur religiösen Sinnstiftung. Oftmals wird dieses vermeintlich asymmetrische Verhältnis mit der etwas feuilletonistisch anmutenden Formel der Wiederverzauberung verklärt und so der Blick auf das veränderte religiöse Leben eingetrübt.

In unserem Forschungsprojekt soll daher der religiöse Wandel fernab von engen Anbindungen an Metatheorien einer historisch kontextualisierten, sozialwissenschaftlich grundierten und kulturhistorisch qualitativ orientierten Analyse unterzogen werden. Zeitlich erstreckt sich das Vorhaben von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre und wird darüber hinaus auch deutlich aktuelle Bezüge haben. Im Zentrum des Interesses stehen die Entwicklungen in Westdeutschland. Vergleichende Perspektiven auf Großbritannien, Skandinavien, Frankreich oder die USA sind jedoch ebenso von Bedeutung wie ein Blick auf die Entwicklungen in der DDR.

Methodisch versucht sich das Projekt aus einer bislang vorherrschenden binnenkirchlichen Sicht zu lösen. Ausgangspunkt sind also in erster Linie religiöse Vorstellungen, religiöse Praxis sowie die öffentlichen Auseinandersetzungen mit Glaubensfragen. Um den religiösen Wandel und seine Ursachen möglichst umfassend erklären zu können, hat das Projekt insgesamt drei Ebenen im Blick:

  1. Die Selbstbeschreibungen der Religionsanbieter: Auf dieser Angebotsebene sind in erster Linie die theologischen Entwürfe der Kirchen und seit den 1970er Jahren auch die Konzepte der neuen religiösen Bewegungen zu verorten.
  2. Der gelebte Glaube: Auf dieser Rezipientenebene sollen verschiedene Vergemeinschaftsungsformen und Milieustrukturen in ihrem Umgang mit religiösen und kirchlichen Konzepten genauer beleuchtet werden.
  3. Die gesellschaftlichen Fremdwahrnehmungen: Auf dieser Beobachtungs- und Deutungsebene sollen schließlich in erster Linie öffentliche Debatten über Religion und Kirche untersucht werden.

Erste Sichtungen des Forschungsfeldes legen die Vermutung nahe, dass die Religion ihren öffentlichen Stellenwert bis in die Gegenwart hat behaupten können. Blickt man allerdings tiefer, auf die individuellen Überzeugungen, so scheint sich die Transformation und Erneuerung von Formen religiöser Vergemeinschaftung eher auf ein kleineres Segment zu beschränken, während  sich für das Gros ein Abschwächen oder Verschwinden des Bedürfnisses nach religiöser Kommunikation und Praxis abzeichnet.