Weltkompetenz

5. Ostersonntag A: Apg 6,1-7

I
Einige wenige Heilige gibt es, derer an mehreren Feiertagen im Jahr gedacht wird, Maria z.B. und Johannes der Täufer. Weniger bekannt ist, dass zu ihnen auch der Hl. Nikolaus gehört. In ganz Russland, aber auch in westlichen Gebieten, z.B. dem Bistum Fribourg und Genf in der Schweiz feiert man ihn nicht nur am 6. Dezember wie bei uns, sondern auch am 8. Mai – das ist der Tag, an dem man im Jahr 1089 seine Reliquien aus Myra in der Türkei nach Bari brachte, wo sie bis heute bestattet sind. Daneben gibt es aber auch einen Heiligen, der nicht einmal jedes Jahr gefeiert wird: Der Heilige Kassian. Und das kam – wie die Legende erzählt – so:

II
Nikolaus und Kassian waren vom Paradies zu einem Besuch auf Erden gesandt. Da bemerkten sie auf ihrem Weg einen Bauern, dessen mit Heu beladener Karren im Dreck steckengeblieben war und der vergeblich versuchte, seinen Esel anzutreiben. – Komm, wir helfen ihm, sagte Nikolaus. – Ich werde mich hüten, erwiderte Kassian, und mir meinen Mantel schmutzig machen. – Gut, darauf Nikolaus, dann geh einstweilen weiter! Und er stieg in den Schmutz und half dem Bauern aus seiner Misere.

Als Nikolaus seinen Gefährten endlich wieder einholte, war er schlammbespritzt und der Mantel zerrissen. Petrus am Himmelstor war reichlich überrascht und fragte Nikolaus, wer ihn denn so zugerichtet hätte. Nikolaus erzählte, was geschehen war. – Und du, Kassian, fragte darauf Petrus, warst du nicht dabei? – Doch, sagte der, aber ich bin es nicht gewohnt, mich in Sachen zu mischen, die mich nichts angehen. Und außerdem wollte ich meinen schönen Mantel nicht beschmutzen. – Gut, sagte Petrus darauf, weil du, Nikolaus nicht gezögert hast, dem Bauern in seiner Not zu helfen, sollst du fortan zweimal im Jahr gefeiert werden. Du, Kassian, aber sei zufrieden damit, einen unbefleckten Mantel zu besitzen: Du wirst nur alle vier Jahre ein Fest haben, alle Schaltjahre einmal. – Und so feiert man den Hl. Kassian bis heute in der Ostkirche am 29. Februar.

III
Eine Legende gewiss, noch dazu eine, die mit etwas Augenzwinkern andeutet, dass auch die Heiligen Menschen waren. Aber gleichzeitig bringt die kleine Geschichte etwas auf den Punkt, was ausweislich der heutigen Lesung aus der Apostelgeschichte von Anfang an ein Kennmal der Christen war, nämlich: Spontan und schöpferisch auf das zu reagieren, was Tag und Stunde fordern. Die junge Gemeinde hatte kurz nach Ostern mächtig zu wachsen begonnen. Außer Frage stand, dass auch jetzt, wo alles auf einmal größere Dimensionen bekam, neben der Verkündigung und dem Gebet nicht die Sorge um die Armen vernachlässigt werden durfte; die gehört untrennbar zum Evangelium dazu, besser gesagt: Sie versinnbildet und bewahrheitet allererst, dass sich Gott vor allen anderen den Armen und Kleinen zuwendet.

Aber kaum, dass sich die Jünger ihrer schönen Missionserfolge freuen konnten – schon hatten sie den ersten gemeindlichen Konflikt am Hals. In der jungen Kirche waren mittlerweile Leute ganz verschiedener Herkunft vereint: In Palästina geborene Juden, aber genauso Hellenisten, also Leute, die aus dem griechischen Kulturbereich kamen. Sie bildeten so etwas wie Landsmannschaften in der Kirche. Und eines Tages hatten jene Hellenisten das Gefühl, dass ein Teil ihrer Armen, nämlich ihre Witwen, die damals zu den rechtlosesten Gruppen der Gesellschaft zählten, – dass die benachteiligt würden. Vielleicht schien es nur so, vielleicht war es so. Die Apostel jedenfalls nahmen die Sache ernst, dieses erste Kirchenvolksbegehren, das es damals gab.

Und nicht ernst nahmen sie es, und machten bekümmerte Gesichter dazu oder riefen eine Kommission ins Leben, die beraten sollte, welche Kommission man denn gründen müsse, um die Kritik der Hellenisten zu beruhigen und versickern zu lassen. Stattdessen handelten die Apostel – und, wie man heute so sagt, sie kleckerten dabei nicht, sondern sie klotzten, ohne auch nur von Ferne Zeitgeistmarionetten zu sein. Nein, sagten sie, uns ist das Predigen und das Beten ans Herz gelegt, und das soll auch so bleiben. Genauso wenig darf die Sorge um die Bedürftigen ins Hintertreffen geraten. Und also schufen sie ein neues Amt – das Amt der Diakone.

Das muss man sich einmal nur drastisch genug vorstellen. Dass eine Gruppe in der Gemeinde – nicht upper class, sondern die armseligen Witwen, noch dazu die der Fremden, der Zugereisten –, dass um diese nicht ausreichend Sorge getragen wurde, das reichte den Aposteln, um ein neues kirchliches Amt zu schaffen mit allem Drum und Dran: Sie beteten und legten den gewählten die Hände auf – wie das bis heute bei der Diakonenweihe geschieht –, um einen wichtigen Dienst zu gewährleisten, der nötig geworden war.

IV
So spontan und schöpferisch reagierten die Apostel auf das, was Sache war. Was sie wohl sagen würden, wenn sie zu Besuch in die Kirche von heute kämen? Wie geht man da um mit dem, was Tag und Stunde nahe legen? Da wollen uns einige Theologen und ein paar Amts- und Purpurträger weismachen, das Amt sei auf ewig unveränderlich, weil gleichsam schon im Abendmahlssaal die erste Priesterweihe stattgefunden habe. „Theologische Geisterfahrerei“ nennt man so etwas

Die Zeiten ändern sich – und mit ihnen darum auch das, was der Kirche wichtig sein muss. Wenn damals schon die Bedürftigkeit einer kleinen Gruppe der Gemeinde Grund genug sein konnte, ein neues kirchliches Amt zu schaffen – wie ist das dann heute, sagen wir, mit der unbestreitbaren Tatsache, dass in unserer Kultur die durch nichts mehr rückgängig zu machende Gleichrangigkeit und Gleichberechtigung von Mann und Frau entdeckt wurde. Müsste dem nicht auch das Bild der Ämter in der Kirche entsprechen? Oder wenn man an die vielfältige Suchbewegung von Menschen denkt, die sich danach sehnen, Grund und Ziel für ihr Leben zu finden – und die dabei so oft nicht mehr auf Priester stoßen, die ihnen zuhören oder sich Zeit nehmen, Rede und Antwort zu stehen über den christlichen Glauben, sondern auf gehetzte Manager und Sakramentenverteiler, weil ihrer immer weniger werden? Die Apostel, kämen sie zu uns, sie könnten sich nur noch wundern, warum wir ein gefährliches Problem aufkommen lassen, indem wir uns weigern die Mittel anzuwenden, die wir zu seiner Lösung hätten? Denn warum um alles in der Welt sollten nicht auch bewährte Familienväter und –mütter fähig sein, einer Gemeinde vorzustehen, wenn sie die geistliche Befähigung dazu verspüren und erkennen lassen? Oder ist die sonntägliche Eucharistie zahlloser Gemeinden heute weniger wichtig als das tägliche Brot der Witwen von Jerusalem damals? Und das sind längst nicht alle Fragen, die sich so oder ähnlich stellen ließen.

V
Vielleicht würde Petrus, wenn er heute käme, sich unwillkürlich an damals erinnern, als Nikolaus und Kassian von ihrer Erdentour zurückkamen. Der, der sich ohne Ansehen des schönen Scheins eingesetzt hatte, der hatte ihm imponiert. Der hatte so viel Kompetenz für die Welt gezeigt, dass er ihm einen zweiten Feiertag gab, damit er denen auf Erden ja deutlich genug vor Augen stehe. Und vielleicht würde er in seinen Bart murmeln: Ich kapier’ das nicht: So viele Anhänger des Kassian! Wo sind denn bloß die Gefolgsleute von Nikolaus?