Vom Anfang der verwandelten Welt

4. Adv A: Mt 1,18-24           

I
Längst ist daraus ein Topos der Weltliteratur geworden: Rainer Maria Rilke ging eines Tages im Tierpark von Paris spazieren. Auf seinem Weg kam er auch an einem Käfig vorbei, in dem ein Panther auf und ab lief. Und unversehens geriet dem Dichter diese Szene zur Stunde der Wahrheit über das menschliche Dasein. In ein paar beklemmenden Zeilen hat Rilke sein Erlebnis aufbewahrt:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

II
So redet einer, der es aufgegeben hat zu hoffen. Trostlos ist dieses Dichterwort und umso schmerzlicher, weil doch alles ganz, ganz anders sein könnte. Denn wie faszinierend sind die geschmeidig starken Schritte dieses Wesens, wie erregend seine Kraft, wie herrlich der Wille mit dem Pulsschlag der Freiheit in seiner Mitte. Was könnte aus diesem Leben alles werden ... – Aber die Stäbe, die Stäbe; sie schieben dem Leben einen Riegel vor. Es sind in Wahrheit die Stäbe unserer Nöte und Neigungen, die Stäbe des ungelebt Gebliebenen. Die Gitter des Alltags und der Sorgen – und die Ketten jener dunklen Ahnung von alters her, dass etwas nicht stimmt in unserem Lebenshaus.

Diese Stäbe sind eng, die Gitter fest. Schon viele haben den Aufstand dagegen geprobt und gepredigt – unter ihnen auch die Propheten des Alten Testaments, besonders Jesaja. Schon seit Beginn der Adventszeit redet er uns in den Lesungen von einer Welt ohne Not und Leid, ohne Krankheit und Alleinsein, von einer Welt mit Pflugscharen statt Schwertern, von einem Leben in Freiheit und von einer Welt, in der Gott ganz nahe ist. Wer aber hat nun mehr recht, der Dichter oder der Prophet? Die Antwort, wer wollte mit ihr zögern! Denn was sind denn des Jesaja Freudengesänge anders als schöne Utopien, leere Träumereien, die nur ein paar Trugbilder an die Wände unserer Käfige malen? Wer heute noch immer glaubt, des Propheten Verheißungen hätten je etwas mit unserer Welt, mit unserem Leben zu tun – muss der nicht verrückt sein?

III
Vor längerem hat jemand kühn zu eben diesem Verrücktsein aufgefordert. Dieser Jemand heißt Matthäus und er tut das mit den Worten des heutigen Evangeliums. In ihm erzählt er uns seine Version der Weihnachtsgeschichte. Mag sie kürzer und nüchterner sein als die des Evangelisten Lukas – den idyllisch-romantischen Grundton behält gleichwohl auch sie in unseren Ohren. Matthäus freilich hatte seine kurze Erzählung von der Geburt Jesu gründlich anders gemeint: nicht bloß als erneuten prophetischen Protest gegen die bestehenden Verhältnisse, sondern weit mehr als die kühne Behauptung, die Träume des Jesaja seien bereits reale Gegenwart. Ist das aber nicht - damals schon und erst recht heute – blanker Zynismus im Angesicht der Kriege, der Sklavenhalterregime, der vergifteten Schöpfung?

Das alles ist wahr, wahr in einer ganz furchtbaren, jedes weitere Wort verstummen machenden Unabweislichkeit. Und dennoch –  dennoch – das Evangelium sieht die Dinge tiefer als selbst der vom Schmerz geschärfte Menschenblick. Es berichtet ganz Seltsames, ja Verrücktes von einem Schreiner aus Nazaret, der Jesus hieß. Dieser Mann hatte eines Tages begonnen, den Leuten zu erzählen, dass Gott ihnen unglaublich nahe ist. Er erzählt, dass Gott uns Menschen nicht aufgibt trotz unserer Schuld und Erbärmlichkeit; ja, dass Gott gerade zu denen hält, die nichts mehr zählen in den Bilanzen dieser Welt. Das hat er erzählt – und wie zur Bestätigung seiner Worte sind schon durch sein bloßes Dasein ganz unwahrscheinliche Dinge geschehen: Menschen haben ihr ganzes Leben radikal umgekrempelt, weil sie in der Begegnung mit Jesus ihre ureigene Wahrheit fanden – so geschah es der Frau am Brunnen in Samaria. Das Gespür für die Gerechtigkeit bricht unvermittelt auf in einem so abgefeimten Geschäftemacher wie dem Zöllner Zachäus und er gibt vierfach zurück, was er zu Unrecht kassiert hatte. Eine Frau von zweideutigem Ruf, weil eindeutigem Lebenswandel, fällt vor ihm nieder, schmiegt sich an ihn und heult ihr ganzes Elend heraus, ihre Sehnsucht nach einem erfüllten, befriedeten Dasein. Und er? „Ihr werden viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat“, sagt er und lässt den Umstehenden den Atem stocken. Und zu der Frau: „Geh hin in Frieden!“ Und auch das ist noch nicht alles: Selbst die kranken Leiber wittern die Kraft Jesu. Wo immer ein Lahmer, ein Blinder, ein Tauber, ein Besessener eintritt in die Atmosphäre Jesu, fallen die Fesseln des Unheils ab. Wo dieser Jesus hinkommt, wird die Welt wieder so, wie sie von Gott gedacht ist.

So haben seine Zeitgenossen diesen Jesus erlebt. Wen kann es da noch wundern, dass sie dabei anfangen, an die alten Lieder des Jesaja zu denken? War es nicht genau das, was er verheißen hatte? Der Traum von einst beginnt Wirklichkeit von heute zu werden - eine Welt, in der Mensch und Schöpfung wieder im Lot sind, weil Gott von sich aus zum Menschen kommt und mit uns sein will in Jesus, wie ganz zu Anfang. Und Matthäus versäumt auch nicht, ganz unmissverständlich zu bekunden, worin denn all jene Ereignisse mit Jesus wurzeln und was die Nähe Gottes, die er bringt, konkret bedeutet, nämlich: die Erlösung der Menschen aus der Sünde. Gott ist mit uns, das meint: alles, was den Menschen Gott und seiner selbst entfremdet, wird vernichtet. Die Gitterstäbe der Egoismen, die uns zu verkrümmten Kreaturen machen – homo incurvatus nennt Luther das -, diese Stäbe werden zerbrochen; die Ketten unmenschlicher, also sündiger Strukturen in Politik und Gesellschaft werden gesprengt, wo immer sich Menschen auf diesen Jesus verlassen und wagen, nach seinem Maß zu leben. Denn in ihm hat Gott von sich aus einen neuen Anfang gesetzt – jenseits all unserer menschlichen Möglichkeiten und Rettungsversuche. Genau das und nicht anders ist auch der Sinn der christlichen Rede von der Jungfrauengeburt.

Mit Jesus hat Gott der Welt unauslöschbar zu erfahren gegeben, dass sie nicht so sein muss, wie sie ist, sondern so sein kann, wie sie soll nach Gottes Absicht. Damit diese verwandelnde Kraft Gottes durch alle Zeiten um sich greifen kann, dazu – und nur dazu – hat Jesus selbst die Jünger um sich gesammelt und ausgesandt. Und dazu – und nur dazu – ist aus diesem Jüngerkreis nach Ostern in schmerzlichen Prozessen die Kirche geworden. Deshalb ist diese Kirche der Ort, wo die von Gottes Kraft verwandelte Welt erstehen kann, oft klein und unscheinbar, aber immer wirklich. Diese Kirche ist nicht weniger als ein Wunder – ein Wunder, weil durch sie inmitten der Ketten und Gitter, Gottes Mit-uns-sein, seine befreiende Nähe, fühlbar und sichtbar für diese unsere Hände greifbar werden kann. Kann! Die Kirche ist die berufene Übersetzerin der Jesaja-träume.

IV
Wenn das stimmt, warum sieht dann die Welt noch immer so furchtbar aus? Die Antwort darauf ist sehr einfach – nur hat sie einen Haken: Wir wollen sie um keinen Preis hören. Diese Antwort lautet: Weil die Kirche täglich dabei ist, jene Nachricht vom gottgeschenkten Neuanfang in Jesus zu verdunkeln – bis der Modergeruch durch die Gemäuer weht, begleitet von der Häme ihrer Kritiker und Gegner. Drastischer als in den letzten zwölf Monaten kann das ja gar nicht sichtbar werden – und zumal junge Träger hoher Ämter haben anscheinend immer noch nichts gelernt und gerieren sich schlimmer wie spätbarocke Fürstbischöfe, gar schamlos genug, die eigene Phrasen-Predigt mit Gottes Wort gleichzusetzen.

Jene andere Welt eines Jesaja und eines Matthäus wird erst dann sichtbare Gestalt annehmen, wenn die Kirche, wenn wir ernsthaft beginnen, den in Jesus gesetzten Anfang uns zu Herzen zu nehmen und ihm nachzugehen. Das aber ist nichts Tiefsinniges und nichts Hochgeistiges, sondern ein Geschehen so diesseitig wie das Essen und Trinken. Paulus hat dieses Nachgehen Jesu, die Übernahme seines alles bestimmenden Lebensprinzips zusammengefasst in dem lapidaren Ruf: „Einer trage des anderen Last“. Wo immer einer für den anderen eintritt, für dessen Freiheit, dessen Leben, dessen Glück; wo immer eine Seele mit der anderen mitfühlt, wo eine Hand sich der anderen entgegenstreckt, dort fängt jene neue Gottes-Welt an.

Viele von uns werden in wenigen Tagen den Christbaum schmücken. Die meisten wissen es wohl gar nicht, aber hinter diesem alten Brauch steht unter anderem auch ein Wort des Jesaja: Er redet einmal von den Bäumen, wie sie jubeln und sich schmücken aus Freude über Gottes Heil. Unser Christbaum mit Kerzen und Kugeln ist so nichts anderes als das sinnenfällige Zeichen der verwandelten Welt. Kann aber dieses Zeichen stehen, wo die Welt die alte bliebe? Sein Recht und seine Wahrheit wird dieses Symbol nur haben, wo dem sinnlich greifbaren Zeichen auch der sinnlich greifbare Beitrag zum Gotteswunder der Verwandlung entspricht.

Christbaum und Christbaum ist also nicht dasselbe. Es gibt wahrhafte und verlogene. Vielleicht täte uns gut, an den Christbaum irgendwo einen kleinen Zettel zu hängen mit den Worten des Apostels:  „Einer trage des anderen Last“. Der Zettel darf ruhig aus Goldpapier sein – Hauptsache, er findet Echo in unserer Seele.