Unauslöschlich

2. Advent A: Jes 11,1-10   

I
Manchmal, wenn ich Nachrichten höre oder Zeitung lese, kommt mir der Gedanke: Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht sein! Es ist unbegreiflich, was Menschen einander anzutun vermögen. Vor einiger Zeit gerieten in Burundi die Volksstämme der Hutu und der Tutsi aneinander. Sie zerstörten sich die Dörfer, erschlugen, verbrannten, vertrieben einander. Am Ende lagen binnen weniger Wochen mehr als eine halbe Million Leichen im Land – da waren noch die Vernichtungsorgien der Nazis überboten. Auf dem Balkan, vor unserer Haustür sozusagen, tobte vor wenigen Jahren ein Bürgerkrieg mit Grausamkeiten, die man fast nicht mehr erzählen kann: Augen ausstechen, Zunge abschneiden, Schwangeren die Bäuche aufschlitzen, Leute das eigene Grab schaufeln lassen und sie dann bei letzten Spatenstichen erschießen, dass sie gleich in die Grube fallen. In China werden überzählige und kranke Kinder in KZ-ähnliche Lager gesteckt, bis sie verhungert sind oder am eigenen Dreck – man muss es so brutal sagen – verrecken. In Dafour blüht – und der sogenannte Westen weiß das – seit Jahren die Sklaverei: Muslimische Reitermilizen überfallen die Dörfer, nehmen die jungen Frauen und die heranwachsenden Jungen mit und verkaufen sie. Eine in die Millionen gehende Zahl jüngerer Menschen aus den Subsahara-Ländern befindet sich auf der Flucht Richtung Norden, genauer: Europa. Abertausende lassen jährlich dabei ihr Leben, ums letzte Hab und Gut gebracht von den Schleppern. Und wenn es ihnen gelingt, über die spanischen Enklaven an der Südküste des Mittelmeers zu uns durchzukommen, geraten sie in einen Teufelskreis der Illegalität und Ausbeutung, der dem gleicht, was einst die braunen und roten Diktaturen des 20. Jahrhunderts den jeweils zu Feinden Erklärten angetan haben.

II
Wer nicht ganz blind ist und einigermaßen wahrnimmt, was ringsum passiert in der Welt, der kann eigentlich nur noch verzweifelt sein. Die Hoffnungen, die manchmal aufkommen, weil es irgendwo irgendwann eine kleine Weile gut geht mit den Menschen, weil sich Völker halbwegs zusammenraufen, zerbrechen jedes Mal wieder unvergleichlich schneller als sie aufkeimen konnten. Sind sie am Ende vielleicht nur Illusion?

III
An gar nicht so wenigen Stellen der Bibel bricht genau diese Frage auf. Auch in unserer Lesung heute aus dem Jesaja-Buch. Der Prophet sieht das Ende des davidischen Königshauses kommen. David gilt in der Geschichte Israels als der König schlechthin, so sehr, dass manche es wagten, seinem Haus, also seiner Dynastie, ein nicht mehr endendes Regieren zu verheißen. Aber das war Trug. Schon zwei Generationen nach David ging es bergab. Davids Nachfahren ließen sich immer weniger von Gottes Weisungen leiten, dafür umso mehr von der eigenen politischen Raffinesse und Kungelei. In den Augen eines, der so intensiv in Gedanken an Gott lebte wie Jesaja, musste solches Gebaren in die Katastrophe führen. Und das sagte er auch drastisch: Das Königshaus wird wie der Stumpf eines abgehauenen Baumes sein. Morscher, vor sich dahinfaulender Überrest, der von dem, was früher war, nicht einmal mehr etwas erahnen lässt. Israels Existenz in Segen und Frieden wird abbrechen. Der alte Kampf um Tod oder Überleben wird von Neuem beginnen. Menschliche Macht, selbst die, die ideal, ja wunderbar erschien wie diejenige eines David, vermag die Welt nicht ordnen und den Frieden nicht zu sichern. Den Sieg trägt das Verbrechen davon, das Böse.

IV
An dieser Einsicht nicht verzweifeln kann nur noch der, für den es mehr gibt als das, was Menschen tun und können. Das Gegenwort gegen die Verzweiflung und gegen ihre Wurzel, das Böse, – das Gegenwort heißt: Gott. Der Grausamkeit, dem Krieg, dem Elend dieses Wort entgegenhalten, nein: entgegen schreien – Gott! –, das ist nicht Ausflucht und nicht billiger Trost. Im Gegenteil: Es ist Ausdruck eines Glaubens von atemberaubender Kühnheit. Hören wir nur Jesaja zu: Es kommt der Tag, da wächst aus dem Baumstumpf Isais, also dem untergegangenen Königshaus Davids, ein neuer Trieb hervor. Aus Totem, sagen wir gleich: aus dem Nichts bricht etwas Neues heraus. Eine Gegenmacht, die dem Irrsinn des Verbrechens nicht nur widersteht, sondern ihn besiegen wird. Niemand kann aus dem Nichts etwas machen, niemand – außer Gott. Wenn es eine Macht gibt, die stärker als das Böse ist, kann sie darum nur von Gott kommen und ihm entsprechen.

Jesaja stellt sich diese Gegenmacht als einen von Gott erweckten Nachkommen Davids vor, der so erfüllt ist vom Geist Gottes, dass er abstrichlos Gottes Willen tut, ja selber Inbild von Gottes Wesensart ist: Gerecht, gerade den Armen zugeneigt und so mächtig, dass er gar keine Waffen, sondern nur ein Wort braucht, um die Gewalttäter zu besiegen. Und von dieser Verkörperung des Gegenwortes gegen alle Todes- und Zerstörungsmacht her vermag der Prophet sogar noch im Anblick des Untergangs die Vision einer anderen Welt in Bildern zu beschwören, die keine Erklärung mehr brauchen: Der Wolf wird beim Lamm liegen, Kuh und Bärin werden Freunde, das kleine Kind spielt in der Nähe der Schlange. Alles Gift und die Angst von Geschöpfen voreinander wird nicht mehr sein. Feindschaft, so tief verwurzelt, dass sie zur Natur der Verfeindeten zu gehören scheint, kommt an ein Ende. Versöhntes Leben auf einer versöhnten Erde – erhofft und vorweg genommen in wenigstens gleichnishaften Erfahrungen.

V
Vielleicht sagen Sie jetzt: Gut – solches Kontrastdenken gibt, nein: gab es in biblischen Zeiten halt. Aber in unserer Zeit auch noch? Ich bin diesbezüglich auf einen Zeugen gestoßen, der mir zu denken gibt: Thomas Mann kommt auf unsere Frage zu sprechen – in seinem mit Abstand umstrittensten Werk, dem Groß-Essay „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Er ist überzeugt, dass jedes Herz nur eines begrenzten Maßes an Schrecken fähig sei, worüber hinaus dann anderes beginne: „Stumpfheit, Ekstase, oder noch etwas anderes, der Einbildungskraft des Unerfahrenen nicht Zugängliches, nämlich Freiheit, eine religiöse Freiheit und Heiterkeit, eine Gelöstheit vom Leben, ein Jenseits von Furcht und Hoffnung, das unzweifelhaft das Gegenteil seelischer Erniedrigung, das die Überwindung des Todes selbst bedeutet.“

Und dann zitiert Mann aus dem Brief eines jungen Reserve-Leutnants aus dem Ersten Weltkrieg, den dieser von der flandrischen Front geschrieben hat:
Angesichts dieser unermesslichen Übermacht des Todes, bei diesem vollkommenen Hilflossein im Trommelfeuer tage- und nächtelang, meist bei Regen, in offenen Trichtern, in der grauenhaften Öde, dem Höllenlärm der Abwehrzone, wird der Einzelne leicht fröhlich, nicht verzagt; so ganz frei aller Sorgen ist man, so los von der Erde, hoffnungslos, doch unbeschwert! […] Ich bin fröhlich wie unsere Leute, die sich mit 39 Grad Fieber und schweren Lungenentzündungen auch noch nicht krank melden. Merkwürdig, gegenüber diesen unermesslichen Zumutungen an Leiden und Strapazen möchte man lachen, so frei von allen Sorgen, aller Verantwortung ist man, so ganz in der Hand Gottes.
Und Thomas Mann kommentiert: „Lehrt nicht dieser Brief, dass die Seele des Menschen nicht umzubringen, nicht zu entwürdigen ist, dass ihre wahre Kraft und Hoheit sich erst im Leiden ganz bewährt?“

VI
Ich kann mir nicht helfen. Da klingt für mich so etwas wie ein jesajanischer Unterton mit. Das Wissen um eine Vision, die uns Menschen unauslöschlich in die Seele geprägt ist. Eine Gottesspur. Aber wird sie jemals wahr? Christinnen und Christen stellen Jesajas glühende Hoffnungsworte vor das Evangelium, vor die Geschichte von Jesus aus Nazaret. So bringen sie zum Ausdruck: Er gehört in diese Hoffnungsgeschichte hinein. Sie glauben ihn als den, durch den das Gegenwort „Gott“ seine Wirkmacht entfaltet – wie aus dem Nichts. Indem Menschen dem, was er sagt, Gehör schenken: indem Menschen in ihrem Handeln an dem Maß nehmen, was er getan hat, greift die Gegenmacht.

Wie aus dem Nichts! Das ist geradezu das Kennzeichen dessen, was wirklich von Gott kommt. Es lässt sich nicht von Anderem herleiten und im Letzten auch nicht begründen. Ich bin mir ziemlich sicher: Sie kennen das aus eigener Erfahrung: aus der Erfahrung mit der Liebe. Sie kommt wie aus dem Nichts. Sie ist sich selbst ihr Anfang. Sie lässt sich nicht erklären. Sie lässt sich durch nichts aufhalten. Sie schont sich selber nicht, wenn es darum geht, dem, dem sie gilt, gut zu sein und Gutes zu tun. Darum kommt sie von Gott. Sie ist die Macht, die in diesem Wort steckt. Wer dieses Wort ausspricht, hat sich dieser Macht geradezu verschrieben. Er kann gar nicht mehr anders, als zu lieben. So wird das Böse besiegt.

VII
Jesus hat uns wie kein anderer vorher gelehrt, was das Wort Gott bedeutet und was darum auch geschieht, wenn man es in Aufrichtigkeit ausspricht. Christ, Christin werden heißt: richtig „Gott“ sagen lernen. Es ist ein Wort, das die Welt verwandelt, wenn es richtig ausgesprochen wird. Wenn wir in der Messe das Gedächtnis Jesu begehen, nimmt er uns in seine Schule des Gottsagens.