Verwurzelungen des Christlichen

2. Advent B: Mk 1, 1-8

I
Als Rabbi Zwi Hirsch von Rymanow auf dem Sterbebett lag, wiederholte er Mal um Mal aus dem Buch Moses’ die Worte: Ein Gott der Treue und ohne Falsch. – Ein Gott der Treue und ohne Falsch. – Ein Gott der Treue und ohne Falsch. – Als ihn die Umstehenden fragten, warum er denn diese Worte so oft wiederhole, gab er zur Antwort: Das ist das Innerste an der heiligen Tora, der Schrift: zu wissen, dass er ein Gott der Treue ist und dass also kein Trug geschieht. Jetzt mögt ihr fragen: Wenn dem so ist, wozu dann die ganze Tora, die Gebote und Satzungen? Es würde doch genügen, Gott hätte am Sinai den einen Vers gesagt! Die Antwort ist: Kein Mensch kann dies Eine erfassen, ehe er die ganze Tora gelernt und geübt hat.

II
Nur wer die Gebote, die Einladungen, die Weisheiten, die Mahnworte der Schrift kennengelernt, wer sie für wahr genommen und ernst genommen hat, wird durch ihre Vielfalt hindurch jene eine Mitte von allem entdecken, die sich so einfach ausdrücken lässt, wie Zwi Hirsch sagt: dass Gott treu ist und nichts Falsches an ihm. Einer, dem man trauen darf.

III
Wer heute das Evangelium verstehen will, muss einen ähnlichen Weg gehen. Es ist der Anfang des ältesten, des Markus-Evangeliums: arche tou euaggeliou Iesou Christou hyiou theou. Es nennt sich selbst Evangelium, also gute Nachricht, von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Mit diesen Worten verhält es sich genauso wie mit dem Vers, den Rabbi Zwi auf dem Sterbebett rezitierte: Sie sagen das Innerste, das Wesentliche. Als solche verstehen aber kann sie nur, wer mithört, was hinter ihnen alles steht – wo eine und einer schon überall durchgegangen sein muss, damit er und sie begreift, warum die Geschichte dieses Jesus von Nazaret zurecht gute Nachricht, frohe Botschaft heißt.

Was man dazu mithören muss, sagt Markus selbst hinzu: Anfang des Evangeliums Jesu Christi…, wie geschrieben steht – und dann zitiert er aus dem Alten Testament. Diejenigen, für die das Evangelium ursprünglich verfasst war, verstanden sehr gut, auf was alles der Evangelist anspielte, indem er so schrieb, weil sie das Alte Testament kannten. Wir Christen heute kennen es in der Regel so gut wie nicht. Was uns das Evangelium an guter Nachricht zu überbringen hat, werden wir aber erst verstehen, wenn wir uns vertraut gemacht haben mit dem, worauf es als seinem Fundament steht.

Ich möchte Sie jetzt zu einem kleinen Stück Weges dorthin einladen. Es ist der Weg, wie die ersten Christen die heilige Schrift gelesen haben und sie unsere älteren, die jüdischen Glaubensgeschwister bis heute lesen. Und ineins damit ist es der Weg, der unmittelbar zu Jesus Christus führt. Wir tun also etwas ganz und gar Adventliches: Wir gehen dem Herrn entgegen, der uns entgegenkommt. Und nur wer ihn in der Schrift findet, kann ihm dann auch im Leben begegnen.

IV
Anfang, also Fundament des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, wie geschrieben steht im Propheten Jesaja – und dann zitiert Markus aus diesem altestamentlichen Buch die Verse:
Ich sende meinen Boten vor dir her;
Er soll den Weg für mich bahnen.
Eine Stimme ruft in der Wüste:
Bereitet dem Herrn den Weg!
Ebnet ihm die Straßen!


Wörtlich steht das bei Jesaja so gar nicht. Das kommt aber nicht daher, dass Markus schlampig gewesen wäre, sondern hat damit zu tun, dass es den jüdischen Gläubigen bis heute, wenn sie aus der Bibel zitieren, nicht um genau und nur die zitierten Worte geht, sondern: Sie wollen damit den größeren Zusammenhang vergegenwärtigen, aus dem die wenigen Worte des Zitats stammen, und dieser Zusammenhang, dieser Horizont wiederum ruft all die anderen Geschichten der Bibel in Erinnerung, die ihrerseits mit ihm in Zusammenhang stehen.

Die Verse nun, die Markus den Anfang, also Ausgangspunkt des Evangeliums nennt, stehen zum Teil tatsächlich im Jesajabuch, zum Teil stammen sie aus dem Buch des Propheten Maleachi. Jesaja steht am Anfang, Maleachi steht am Ende des Gesamts der Prophetenbücher im Alten Testament. Indem Markus am Anfang seines Evangeliums auf beide anspielt, will er sagen: Alles, was alle Propheten je gesagt, was sie verheißen haben von Anfang bis Ende, steht hinter Jesus. Also ganz viel Hoffnung, Trost, Verheißung – und immer unterlegt mit dem Ernst der weiß, dass es ums Ganze geht.

Das ist aber noch nicht alles: Die Worte aus dem Maleachi-Buch, die Markus anklingen lässt, stehen ihrerseits auch ganz am Ende dieses Prophetenbuches, und dieses Buch wiederum bildet in der christlichen Bibel das Ende des Alten Testaments. Dort heißt es: Bevor aber der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, seht, da sende ich zu euch den Propheten Elija. Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muss. Mit diesem Versprechen Gottes, er selber werde einen senden, der Menschen untereinander wieder versöhnt, dass sie es aushalten mit sich und die Welt darob vor Gott Bestand haben kann, endet das Alte Testament – ganz offen also, solange, bis dieses Versprechen ganz erfüllt ist.

In Markus’ Anspielung auf diese Maleachi-Stelle steckt freilich noch eine andere Geschichte, auf die dieses Prophetenwort seinerseits anspielt: einen Vers aus dem Buch Exodus, der Geschichte vom Auszug aus dem Sklavenhaus Ägypten hinüber in das gelobte Land. Da wird dem Volk Israel am Sinai von Gott gesagt: Ich werde dir einen Engel schicken, der dir vorausgeht. Er soll dich auf dem Weg schützen und dich an den Ort bringen, den ich bestimmt habe. – Ich selbst begleite und behüte dich durch meinen Boten auf dem Weg in die Freiheit, heißt das. Und: Was Gott damals versprach, gilt noch immer, deshalb erinnern die Schlussworte des Alten Testaments daran. Denn er ist treu – sich und uns.

Ein Viertes kommt hinzu – durch Markus’ Worte aus dem Jesaja-Buch. Sie stehen dort am Anfang derjenigen Kapitel, die dem Volk Israel zusagen, dass mit dem babylonischen Exil nicht alles verloren und verspielt ist, sondern dass es trotz der Schuld, die dazu geführt hat, eine Heimkehr, einen neuen Anfang gibt, weil Gott sich durch nichts und niemand, nicht einmal die Ablehnung gegen ihn, aufhalten lässt, zu tun, was er mit Abraham begonnen hat: durch Israel die ganz Welt wieder für sich zu gewinnen.

V
Also: Vier – nein, die vier ganz großen Geschichten Gottes mit seinem Volk ruft Markus durch sein Zitat wach und nennt sie den Anfang des Evangeliums: Die Geschichte vom Abenteuer des Auszugs und dass Gott die, die diesen Weg in die Freiheit gehen, begleitet; das Ringen dieses Gottes um die Liebe seines Volkes; die Geschichte vom Ende des Exils und dass Gott selbst durch Versagen und Schuld hindurch einen neuen Anfang setzt; und die Geschichte davon, dass Gott unbeirrbar nicht Gericht, sondern Versöhnung will, mit der das Alte Testament endet.

Alle vier Geschichten zusammen betrachtet Markus als Vorzeichen für das, was er von Jesus erzählen wird. Wie Jesus ist, bekräftigt und besiegelt ihm, was in der Schrift steht. Bekräftigt und besiegelt es freilich auf so einmalige Weise, dass im Umkreis Jesu sich tatsächlich schon zu erfüllen beginnt, was die alten Gottesgeschichten erhoffen, was sie versprechen und so glühend ersehen. Darum kann und wird Markus alles, was im geschichtlichen Leben Jesu geschieht, im Licht dessen erzählen, worauf er als den Anfang seines Evangeliums angespielt hat. Darum wird auch der Täufer Johannes, dieser kantige Prophet, dem Jesus so nahestand, wie von selbst zu einer Figur vom Typ des Gottesstreiters Elija, den Maleachi als unmittelbaren Vorbereiter für den großen Tag des Herrn verheißen hatte.

VI
Das Evangelium, das auf diesen Fundamenten ruht, lautet darum: Jesus geht und weist den Weg aus allem, was versklavt und niederdrückt – den Weg der Freiheit. Selbst wo sich Schuld und Versagen hineinmischen und diesen Weg verbauen drohen, bahnt Gott selbst ihn neu. Und dem bleibt er treu bis zum Letzten. Bis der Letzte und die Letzte von uns diesen Weg wirklich gegangen sind oder wirklich und mit Entschiedenheit verweigert haben. Und bis zum Letzten in dem Sinn, dass Gott am Ende nichts zu viel gewesen sein wird, uns den Weg offen gehalten zu haben. Für das alles steht Jesus ein. Darum nennen ihn die Gläubigen Gottes Sohn und freuen sich über seine Geburt. Das erklärt sich aus dem Anfang, über den wir heute nachgedacht haben. Und wir warten darauf und bitten darum, dass sich Gottes Versprechen, das Jesus besiegelt, an uns erfüllt. Wer sich mit Jesus verbindet, dem wird es sich erfüllen. Das zu behaupten, ist nichts Vermessenes. Denn – Rabbi Zwi hat’s ein Mal gesagt, und zwei Mal und drei Mal: Der, dem wir trauen, ist ein Gott der Treue und ohne Falsch.