Was stärker als die Sünde ist

5. Ostersonntag B: 1 Joh 3,18-24 (St. Anton, Regensburg)

I.
Seit vielen Jahren gibt es in Frankreich eine Zeitschrift, die heißt „Prier“ – Gebet. und sie besteht ausschließlich aus Gebeten. Gebeten, die Menschen verschiedenen Alters, Berufes und Standes einsenden. Manche sind ganz einfach, eine Art Kindergebete, andere fast Gedichte, wieder andere muten den Lesern dunkel und rätselhaft an, Widerschein großer Not und verborgener Kämpfe, die der Beter durchstehen musste.

II.
Vor einiger Zeit stand dort ein Gebet, das viele, die ehrlich sich selbst anschauen, mindestens einmal im Leben und meist öfter wohl mitsprechen könnten:
Ich möchte bitten, wie der Winzer den Herrn des Weinbergs bat, für den Obstbaum, der nichts bringt und nur den guten Reben ringsum aus dem guten Boden Kraft wegsaugt.
Ich möchte bitten, wie der Obstbaum bäte, wie der Nichtsnutz, ich versteh’ ihn. Dass auch einer für mich eintritt, mir noch etwas zutraut, mir noch eine Chance gibt.
Jahr für Jahr, ich weiß, hab’ ich versagt, tausendmal abends hab’ ich gelobt, morgen aus der Dürre, aus der Trägheit aufzustehen, voll des Geistes, der mir lieb ist., in mir wohnt, doch eingesperrt im Wirrwarr.
Ich bitte, wie der Obstbaum bäte, ich möcht’ so gern von Früchten schwer die Zweige fühlen, voller Saft und Leuchten, wie ich gemeint war. Ich bitte, gib mir noch einmal Zeit, noch einen Aufschub. Wie viele Male schon und immer wieder? Eben drum: ich geb’ nicht auf.

III.
So beten, bitten um einen neuen Anfang nach dem Versagen, und noch einmal, und noch einmal, - so bitten kann nur, wen die Hoffnung trotz seiner Fehler nicht verlassen hat. Hoffnung aber, die sich einer selber machte nach dem Motte – „Wird schon gut gehen“ - , die hält nicht, wenn sie die Last des eigenen schlechten Gewissens tragen soll. Hoffnung gerade in solchen Situationen muss sich auf einen Grund stützen können.

IV.
Den Grund dafür, dass ein Mensch nicht einmal dann verzweifeln muss, wenn ihn sein eigenes Gewissen verurteilt, - den nannte uns vorhin in der Lesung der erste Johannesbrief: Gott ist größer als unser Herz, unser Gewissen. Daher kommt, dass das Urteil des Gewissens und damit das Böse, die Sünde, die von ihm verurteilt wurden, nicht das letzte Wort sind über uns, wenn wir uns verfehlt haben.
Aber, du das ist das eigentliche Aufregende daran: Dieses Darüberhinaus über Gewissen und Schuld ist nicht etwas Geheimnisvolles in Gott oder etwas, was Gott tut. Sondern dieses Mehr ist etwas ganz und gar Menschliches und liegt allein in unserer eigenen Hand. Es ist – die Liebe. Liebe meint nicht ein erhebendes Gefühl, sondern ganz und gar nüchtern einen Dienst: Jemanden, der mich braucht, weiterhelfen, ein gutes Wort für ihn übrighaben, einstehen für ihn, weil er in Not ist, manchmal mit dem, was mir gehört. Vielleicht einfach aushalten bei ihm, wenn nichts mehr hilft, und ihn nicht allein lassen. Gerade so, wie Rabbi Mosche Leib es gesagt hat: Menschen lieben heißt, ihr Bedürfen zu spüren und ihr Leid zu tragen.
Wenn Menschen so zueinander sind, also nicht bloß von der Liebe reden, sondern sie tun, dann – sagt der Johannesbrief – dürfen sie für sich selbst als Erkennungszeichen dafür nehmen, dass sie aus der Wahrheit sind, das heißt soviel wie: dass sie zu Gott gehören. Das darf ihnen sogar die Angst nehmen, die sie erfasst, wenn sie daran denken, dass sie gesündigt und Böses getan haben. Liebe, die ehrlich ist, wiegt vor Gott mehr als die Sünde – und er weiß alles, kennt die Hintergründe, warum wir so oder so gehandelt haben, kennt sie besser als wir selbst. Aber darauf kommt es auch gar nicht mehr an. Die getane Liebe zählt, zählt immer noch, sogar dann, wenn sie von Sündern kommt. Darum gibt sie, die Liebe, dem einen Grund, der selbst gegen den Spruch seines eigenen Gewissens für sich zu hoffen wagt.

V.
Man muss sich klar genug vor Augen bringen, was das bedeutet: Ein Dienst der Liebe, und sei er auch unscheinbar, hat die Macht, die Trennmauer, die die Sünde zwischen Gott und Mensch aufrichtet, zu durchbrechen. Das Unfruchtbare an einem Leben, das es gegeben haben mag und nicht zu knapp gegeben haben mag, wird durch Liebe vorläufig, überholbar gemacht. Wer die Liebe tut, dem schenkt sie die Gewissheit, Gott nicht verloren zu haben und nicht verloren zu sein. Da ist so, weil Gott so ist, wie er ist: größer als unser Herz, größer als das, was wir uns unter Schuld und Urteil unter Gericht und Gerechtigkeit vorzustellen vermögen.

VI.
Das ist der Grund der Zuversicht, mit der Christen leben dürfen. Sie müssen sich nie aufgeben. Sie dürfen nur die Liebe nie vergessen. Und wie viel Anlass gibt es jeden Tag, sich ihrer zu erinnern! Überall. Darum kann der Johannesbrief am Ende das, was er sagen möchte, auf einen ganz einfachen Nenner bringen. Dafür, dass es gut ausgeht mit uns, ist eines wichtig: Dass wir Christus glauben. Er hat uns das Gebot der Liebe ans Herz gelegt. Wer liebt, glaubt ihm und hält sein Gebot, auch wenn er es vielleicht nicht einmal ausdrücklich weiß. Wer sein Gebot hält, bleibt in Gott und Gott in ihm. Mehr braucht es nicht, dass wir es aushalten mit uns – auch in einer Stunde noch, da wir uns als Sünder wissen.