Ostern oder: Die Liebe trügt nicht

Ostermontag B: Apg 2,14.22-33

I.
Gerade haben wir den Ostermorgen begangen, Ursprung und Mitte unseres Glaubens. Und jetzt nehmen wir uns Zeit zum Feiern, 50 Tage, um in diese Mitte hinein zu wachsen und umgekehrt aus dem zu schöpfen, was sie an guter Nachricht für uns bereithält. Trotzdem sind diese sieben mal sieben Tage beginnend mit heute wie ein einziger großer Festtag. Darum ist wie selbstverständlich vorhin in der ersten Lesung auch schon vom Ende der 50 Tage, also von Pfingsten die Rede: Wir hörten des Petrus Pfingstpredigt. Und in der erzählte der Apostel nichts anderes als die Ostergeschichte: Wie alles anfing mit Jesus, wie es zum Karfreitag kam – und warum die Jünger mit dem Zeugnis der Schrift, also des Alten Testaments, im Rücken überzeugt sind, dass das Kreuz nicht das Ende von allem war, sondern zum Zeichen einer Lebensmacht wird, die auch dem Tod noch standhält, weil hinter ihr Gott selber steht.
Petrus führt dabei in seiner Predigt regelrecht eine Art Osterbeweis. Er tut das, indem er sich auf David, den Beter der Psalmen und damit den großen Poeten des Gottvertrauens beruft, der wie keine andere Gestalt des Alten Bundes als Zeuge für Gottes Barmherzigkeit und Güte, ja einfach für die Liebe steht, mit der Gott seine Geschöpfe umfängt. Von daher muss man, will man Ostern verstehen, mit Petrus die Geschichte vom Sterben Jesu und dem Ostermorgen als eine Geschichte einer großen Liebe lesen, eine Geschichte, die, weil sie von Gott handelt, von einer Liebe erzählt, die so ist, dass sie nicht trügen kann. Diese Lesart von Ostern ist vielleicht nicht ganz selbstverständlich. Aber man kann sie einüben, indem man sich ein wenig mit dem vertraut macht, was Liebesgeschichten überhaupt ausmacht. Eine von ihnen habe ich gefunden, die kommt dem besonders entgegen. Darum möchte ich Sie Ihnen erzählen:

II.
In seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ erzählt Max Frisch von Ali, einem jungen arabischen Schafhirten. Der dachte eines Tages, allmählich werde es Zeit für ihn zu heiraten. Aber Ali war arm. Ein anständiges Mädchen kostete damals in jener Gegend 15 Pfund, viel Geld für einen Schafhirten. Ali hatte nur 10 Pfund.
Als er hörte, im Süden seien die Bräute billiger, zögerte er nicht lange, nahm seinen Esel und ritt gen Süden, viele Wochen lang. Als Ali endlich in die gelobte Gegend kam, fehlte es nicht an Töchtern, die ihm gefielen, nicht an Vätern, die verkaufen wollten, aber auch hier war für 10 Pfund nichts mehr zu heiraten. Ali handelte tagelang, aber ohne Erfolg. 10 Pfund waren kein Angebot, sondern eine Beleidigung. Zu Tode betrübt machte sich Ali auf den Rückweg mit seinem Geld in der Tasche. Eines Tages – es war halbwegs zwischen Nord und Süd – kam Ali an einen Brunnen, um zu trinken. Da sah er ein Mädchen sitzen, wie er noch keines gesehen hatte, schöner als alle, die er für 10 Pfund nicht hatte haben können. Aber: Das Mädchen war blind.
Das Mädchen war nicht nur schöner als alle, sondern auch liebevoller. Da es in keinem Brunnen je gesehen hatte, wie schön es war, und als Ali ihr sagte, wie schön sie sei, mit allen Worten, die einem arabischen Schafhirten geläufig sind, liebte sie ihn über alles und bat ihren Vater, dass er sie an Ali verkaufe. Sie war billig; ihrer Blindheit wegen wollte der Vater sie los sein: sechs Pfund. Denn keiner wollte eine blinde Braut. Aber Ali nahm sie, setzte sie auf einen Esel und nannte sie Alil, während er selber zu Fuß ging.
In Alis Heimat trauten die Leute ihren Augen nicht. Niemals hatten sie ein schöneres Mädchen gesehen – nur: Blind war es. Aber Ali hatte noch vier Pfund in der Tasche. Er führte Alil zu einem Wunderdoktor und sagte: Hier hast du vier Pfund, jetzt mach, dass Alil ihren Ali sieht. Und wirklich, der Arzt machte Alil sehend. Und als Alil sah, dass ihr Ali, verglichen mit anderen Schafhirten ringsum, gar nicht schön war, da liebte sie ihn trotzdem über alles, denn er hatte ihr alle Farben dieser Welt geschenkt durch seine Liebe – und sie waren das glücklichste Paar am Rand der Wüste.
Das Märchen dauerte ein Jahr, dann war es aus. Ali hatte sich an Alils Krankheit angesteckt, so dass er langsam, aber sicher erblindete. Und es kam eine böse Zeit, denn als Ali blind war, konnte er nicht mehr glauben, dass Alil ihn liebte. Jedes Mal, wenn sie aus dem Zelt ging, wurde er eifersüchtig. Es nutzte nichts, dass sie ihm schwor. Aber Ali konnte ja nicht sehen, und da er solche Ungewissheit nicht aushielt, begann er sie zu schlagen. Sonst rührte er seine Alil nicht mehr an. So ging es lange Zeit, bis Ali sich rächte, indem er ein anderes Mädchen umarmte, das öfter und öfter in sein Zelt schlich. Aber auch das machte ihn nicht gesund. Es wurde immer schlimmer. Wenn er wusste, dass es Alil war, die jetzt in sein Zelt kam, schlug er sie, und sie weinte, dass man es draußen hörte. Und Ali und Alil waren das unglücklichste Paar am Rand der Wüste.
Als der Wunderdoktor davon hörte, erbarmte es ihn, und er kam, um Ali zu heilen, obwohl dieser kein einziges Pfund mehr bezahlen konnte. Ali wurde wieder sehend, aber er sagte es Alil nicht, denn er wollte ihr nachschleichen, und das tat er auch. Aber was sah er? Er sah Alil, wie sie weinte, wenn er sie im Zelt geschlagen hatte, und er sah, wie sie schnell ihr Gesicht wusch, um in sein Zelt zu schleichen als das andere Mädchen, damit der blinde Ali sie umarme.

III.
Wie die Geschichte ausgeht, hat der Dichter offen gelassen. Hat er doch an der Macht der Liebe gezweifelt? Erscheint ihm zu wunderbar, zu unglaublich, dass ein Mensch so unbeirrbar lieben könne wie Alil? Vielleicht hat er recht mit seinem Zögern. Denn wer von uns möchte ernstlich die Hand ins Feuer legen selbst für seine tiefsten Gefühle?
Wenn wir, wie vorgeschlagen, die Ostergeschichte auch als eine solche Liebesgeschichte lesen, dann haben wir mit ihr eine, von der wir wissen, wie sie ausgeht. Petrus und die anderen trauen sich, diese Geschichte zu erzählen, weil sie von ganz weit herkommt, sozusagen tiefe Wurzeln hat, die ihr Halt geben. Denn von den ersten Seiten der Bibel an geht es um die Liebe zwischen Gott und Mensch: Wie der eine für den anderen da ist; wie der Ungeist des Misstrauens hineinträufelt in dieses Miteinander und den Menschen an seinem Gott irre werden lässt; wie dieser Gott leidet an dieser zurückgewiesenen Liebe und alles versucht, des Menschen Liebe zurückzugewinnen; wie er sich treten, schlagen, bespucken lässt, um gerade im Ertragen der ärgsten Lieblosigkeit noch die Treue, die Unbeirrbarkeit seiner Liebe zu bezeugen.
Zunächst scheint diese aufwühlende Geschichte zwischen Gott und Mensch über die Jahrtausende der Heilsgeschichte hin im Letzten doch wieder in jene unentschiedene Offenheit zu münden wie die Geschichte von Ali und seiner Alil. Doch dann findet diese Geschichte einen Ausgang zu wunderbar, als dass der Mensch ihn sich hätte ausdenken können. Dieses Ende ist das Evangelium mit seiner Geschichte über Jesus von Nazaret. Er selbst und sein Lebensgeschick sind ein einziges gelebtes Zeugnis dafür, dass Liebe wirklich unbeirrbar sein kann und dass die Macht so unbeirrbarer, so göttlicher Liebe alles Dramatische, alle Verfahrenheit, alles Zerrissene zum Guten wenden vermag. In ihm wieder-holt sich gleichsam noch einmal die ganze Geschichte der Liebe zwischen Gott und Mensch, aber so, dass von ihrem geglückten Ende her alle Geschichte vorher und nachher heil werden kann.

IV.
Angefangen hatte ja alles damit, dass Jesus in seinem Beten und Meditieren der Schriften des Alten Bundes wohl eine durch nichts und niemand verstellte, innige Nähe und Verbundenheit mit Gott erfahren durfte. Ein beglückender Fund muss das für ihn gewesen sein. Die Gleichnisse aus seinem Mund wie das vom Schatz im Acker verraten etwas davon: Diese Erfahrung hat Jesus nicht für sich behalten wollen und behalten können. Aus innerstem Antrieb musste er anderen weitersagen, wie Gott ist, damit auch sie teilhaben an diesem Glück. Und am meisten – was Wunder – hat es ihn an die Seite jener gedrängt, die am allernötigsten hatten, zu hören und zu spüren: Da ist einer, der mich mag, einfach weil ich da bin, ohne dass ich mir diese Zuneigung verdienen muss. Das waren zuerst die Kinder, die Frauen, die Armen, die Kranken, die Fremden, die Besessenen – und vor allem die Sünder, alle, die man als wenig oder gar nichts wert abgestempelt hatte. Ihnen allen gilt Jesu Sympathie, sein Mitleiden, seine Zuneigung zu allererst, damit sie spüren, was es heißt: Ich bin gemocht; es ist gut, dass ich da bin.
Aber gar nicht lange, da wird Widerwille laut gegen diese Rede von Gott. – Wenn es wahr ist, dass bei Gott jeder Mensch Ansehen hat, weil er warmherzig auf ihn blickt, und die Kleinen, die Schwachen, die, die nichts zu sagen haben, zu allererst, steht dann nicht alle Ordnung auf dem Kopf? Wenn Gott jeden ganz liebt, sind dann nicht alle gleich, gleich viel Wert und ein jeder von einmaliger Würde, wenn der eine und unendliche Gott auf ihn schaut mit den Augen der Liebe? Wie aber könnte dann noch sein, dass ein Mensch über dem anderen steht, einer dem anderen zu Diensten sein muss, einer befiehlt und die anderen gehorchen? Was ist dann mit der Macht und den Titeln, die unter Menschen so viel wiegen? Stellt diese Rede vom liebhabenden Gott nicht alle Herrschaft in Frage, jedes Oben und Unten? Ja, genau das tut sie! Vor Gott gibt es nur das Füreinander der Liebe, das jeden, den Geliebten und den Liebenden frei macht. Aber eben darum auch muss zum Schweigen gebracht werden, wer so subversiv, so umstürzlerisch von Gott zu reden wagt.

V.
Genau das hat Jesus erlebt, angefangen von der Antrittspredigt in der Synagoge von Nazaret, wo er hinausgetrieben wird an den Rand des Berges, um hinabgestürzt zu werden. Und dann Golgotha. Da wird er hinausgeworfen aus der Welt, weil er ein unerträglicher Störenfried war mit seiner Botschaft vom liebenden Gott, dem nichts zu klein, nichts zu schmutzig, nichts zu dürftig ist, um sich hineinzubegeben, wenn es nur Zeugnis ablegt von seiner Liebe zu den Menschen wie Alil, der es auch nicht zu viel war, sich schlagen zu lassen, ja sogar eine Dirne zu spielen, um ihren misstrauischen Ali immer wieder noch einmal ihre Liebe zu schenken.
Endlich waren Jesu Gegner soweit, das Recht ihres Votums für die Macht unter Beweis zu stellen. Wäre die Liebe, von der Jesus redet und die er lebt, wirklich mächtiger als alles, mächtiger noch als die Macht sogar, dann hätte er mit ihr alle seine Widersacher in die Knie gezwungen. Da hätte er sie genötigt anzuerkennen, wie sehr sie geirrt hatten. Aber nichts von all dem. Jetzt hängt er am Kreuz. Blutend, ohnmächtig, dem Spott ausgesetzt – ein sprechender, nein ein schreiender Beweis, dass Gott nicht gleich Liebe ist. Denn wäre er der Liebende, dann hätte er diesen seinen Boten jetzt nicht in solcher Erbärmlichkeit hängen lassen. Jesus stirbt. Der Mund, der von der Macht der unbeirrbaren Liebe gepredigt hatte, verstummt. Die Hände, die diese Worte in Gesten der Menschlichkeit übersetzt hatten, erstarren. Kein Wunder, dass jene voller Angst davonrennen, die Jesu Botschaft Glauben geschenkt hatten.

VI.
Aber umso größer ist das Wunder, dass sie nach wenigen Tagen auf einmal von neuem sich sehen lassen – ohne Angst. Beseelt von einem Mut und einer Freiheit, die andern die Sprache verschlagen. Sie stellen sich mitten hin und behaupten: der Gekreuzigte, der Tote lebt. Er hat sich uns gezeigt. Es muss etwas geschehen sein, was diese Menschen, die zuvor ängstlichen, verleugnenden, konfusen Frauen und Männer, ergriffen hat, so grundstürzend, dass sie jeden Respekt, jede Beklemmung vor der Macht verlieren und von neuem die Botschaft von der Über-Macht der Liebe verkünden und durch ihr eigenes gelebtes Leben als wahr bezeugen. Gott hat seinen Jesus auferweckt, sagen sie unbeholfen dafür. Am Tiefpunkt ihrer Bestürzung, da ihnen alles Wissen und Verfügen aus der Hand geschlagen war, da fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen: Wenn an unserer ganzen alten Geschichte mit Gott etwas daran ist, an all dem seit Abraham, dem Dornbusch, David und den Propheten, dann kann dieser Jesus, der so sehr zu Gott gehört, gar nicht tot sein. Nein im Gegenteil, umgekehrt: dann war sein Sterben nichts anderes als das letzte, nicht mehr zu überbietende Bild für Gottes Liebe zu uns, der nichts zu viel ist. So sehr bin ich da für dich, sagt uns Gott durch diese seine Ikone, die Jesus heißt, dass du nie und nimmer untergehst, nicht einmal in deinem irdischen Ende. Und dass das allen voran dem zuerst auf einzigartige Weise gilt, der sich für dieses Inbild Gottes in Dienst nehmen, geradezu verbrauchen ließ, kann das noch verwundern? Wir sagen „Ostern“ dafür und meinen damit: Die Liebe trügt nicht.

VII.
Darum beginnt Ostern mit dem Liebesinbild der Fußwaschung und des gebrochenen Brotes der Eucharistie, darum endet das Osterfest mit dem Liebesinbild des pfingstlichen Sprachenwunders einer Gemeinschaft Fremder, die einander verstehen und sogar die irdischen Güter miteinander teilen. Und die Emmausszene des heutigen Evangeliums ist gleichsam eine Miniatur, in der beides – das Abendmahlszeichen und das menschliche Miteinander – sich untrennbar verwebt und die uns sagt: Im liebenden Miteinander verleiblicht sich der Auferstandene mitten unter uns. In allen Liebesgeschichten, die wirklich welche sind, geschieht Ostern. In sie hinein ist Jesus auferstanden. So hat er Ort und Zeit überwunden, ist überall zugegen. Sein Wort hören und das Brot brechen – wie jetzt – heißt Atem holen für das Weiterspinnen dieser Gottesgeschichte, in die wir selbst hineingewoben sind.