Sakrament der Versöhnung

Karfreitag: Hebr (pass.)

I. Durch den Bericht einer Pilgerin namens Egeria wissen wir ziemlich gut, wie man Ende des 4. Jahrhunderts in Jerusalem Gottesdienst und Kirchenjahr gefeiert hat. Es gab, dort so schreibt sie, stundenlange Lesegottesdienste, in der Weihnachtsvigil etwa elf Prophetenlesungen plus eine aus dem Titusbrief und ein Evangelium. Und in der Karwoche, besonders an den Heiligen Drei Tagen des Osterfests, wird die ganze Heilsgeschichte rekapituliert mit Lesungen über Schöpfung, Sündenfall, Erlösung bis zur Endzeit - und dann alles ins Verhältnis zum Leben Jesu und vor allem zur Passion gesetzt. Dazu las man die Bibel in weiten und allen wesentlichen Teilen vom Anfang, also der Genesis aus, auf Christus hin – und dann sozusagen nochmals von ihm als dem maßgebenden Kommentator her zurück. Das können wir uns heute kaum mehr vorstellen, aber so nahmen sich die Gläubigen Zeit, um sich in das Gesamt der biblischen Botschaft gleichsam zu verstricken, weil sie überzeugt waren, dass man nur von diesem Ganzen her das Einzelne und namentlich die Mitte verstehen und zur Mitte des eigenen Lebens werden lassen kann. Ich denke, die Alten hatten damit Recht, und vielleicht sollten wir versuchen, im Maß des uns heute Möglichen, auch diesen Weg zu erproben. II. Triftigsten Grund dafür gibt uns das, was wir jetzt und heute feiern: das Leiden und Sterben des Herrn. Denn Schmerz und Tod sind die Dinge, die wir Menschen niemals begreifen können. Man kann davon nur erzählen, auf dass sie – eingewoben in ein größeres Ganzes – einen Ort finden, von denen her uns ein Ahnen zukommen mag, was es um sie ist. Wenn wir uns so dem Karfreitag und dem toten Jesus am Kreuz annähern, dann entdecken wir schnell, dass wir dafür bis auf die ersten Seiten der Bibel zurückgehen müssen, weil die ganze Passionsgeschichte sozusagen durchschossen ist mit Erzählfäden und Sinnbildern, die bis dorthin reichen. Die ersten elf Kapitel der Bibel – die sogenannte Urgeschichte des Buches Genesis – beschreiben nach der Ouvertüre des Schöpfungswerkes alle weiteren Geschichten der Menschen als einen ein-zigen Abfall vom Ursprung, als lawinenartiges Anwachsen des Bö-sen angefangen vom Misstrauen, also vom Nein zu Gott, das Adam und Eva sprachen, über Kains Brudermord bis hin zu Lamechs Ge-walttätigkeit. Und auch der Neuansatz mit Noah nach der Sintflut zeitigt kein wesentlich anderes Ergebnis: Die Geschichte der von seinen Söhnen abstammenden Völker endet im sprachlosen Desaster des Turmbaus von Babel dieses Inbilds, wie der von Gott sich abgewandt habende Mensch an seiner eigenen Vermessenheit zerbricht. Der Lauf von Welt und Zeit als eine einzige Siegesgeschichte des Neins gegen Gott und seinen Geist. Und alles, was in der Bibel nach den elf Kapiteln über Tausende von Seiten hin noch folgt, ist die Geschichte des dramatischen Ringens Gottes um den Menschen trotz allem; die Geschichte einer bangenden Liebe, die nicht aufgeben will und sich von jedem Fehlschlag zu nur noch größeren Opfern, ja Verrücktheiten verleiten lässt. Mit Abraham beginnt diese Geschichte; sie führt zu Mose, zu den Königen Saul und Salomon, zu den Propheten bis hin zu Johannes dem Täu-fer. Eine Geschichte, die immer unübersehbarer die Frage hervortreten lässt, ob der Mensch noch einmal zu seinem Gott zurückfindet, ob er dem Gottesgeist doch noch einmal trauen wird oder ob Gottes geliebtes Werk mit einem schrillen Misston enden muss. III. Genau an dieser Geschichtsstelle tritt für Christinnen und Christen Jesus von Nazaret mit dem Ereignis seiner Taufe am Jordan aus der Verborgenheit seines dreißigjährigen Lebens in Nazaret. Jesus kommt als gläubiger Jude vertraut, und christlich werden sagen müssen: vertraut wie kein anderer mit den brennendsten Fragen des Alten Testaments zu Johannes an den Jordan. Er hört die Bußpredigt des Täufers, der den Leuten schonungslos ihr Zerfallensein mit Gott und dessen Folgen vor Augen hält. Jesus sieht dort die Men-schen die Bußtaufe empfangen. Das war die Geste derer, die sich danach sehnten, endlich mit Gott wieder im richtigen Verhältnis zu stehen. Diese Geste hat Jesus wohl tief angerührt. Denn in ihr er-kennt er wieder, was ihn in seinem Innersten beseelte: der Wunsch, ganz auf Gott zu hören und zu ihm zu gehören. Und weil er aus seiner eigenen innigen Erfahrung des Gottesgeistes, der Gottesnähe wollte, dass auch andere dieses Glück finden, darum stellt er sich denen an die Seite, die der Bußtaufe bedürfen. Er geht mit ihnen, steigt hinab in den Jordan mit ihnen zu dieser Taufe, die die Sünde abwäscht. So geht er, der das gerade nicht nötig hätte, eben dorthin, wo die Sünder sein sollten aber wegen der Sünde nicht sind. Er stellt sich getrieben vom Gottesgeist an ihren Platz. Er hält ihre Stel-le offen. In diesem Augenblick, da sich Jesus so von Herzen dem Geschick der Menschen von Gott her und um Gottes willen verbindet, da leuchtet schon das endgültige Profil seiner Existenz auf: Wer er für Gott und wer er für uns ist. Die Evangelisten können das nur noch zur Sprache bringen, indem sie zurückgreifen auf die alten Bilder und Worte des Alten Testaments, in denen die Verheißungen des Heils über Jahrhunderte hin glühten: Als er getauft wird, so schreibt Lukas, betet Jesus, tut sich also auf für Gott. Da öffnet sich der Himmel. Das bedeutet: Indem sich Jesus betend für Gott öffnet, wird auch der Bereich Gottes wieder zugänglich, die Verbindung zwischen Himmel und Erde wiederhergestellt. Und wie geschieht das? Das Evangelium erzählt weiter: „Und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab“(Lk 3,22a). Gottes Geist über der Urflut des Schöpfungsmorgens; Noachs Taube über der Sintflut diese beiden Bilder rufen das Evangelium wach, um anzudeuten, was jetzt durch Jesus geschieht: In ihm setzt Gott einen neuen An-fang, eine neue Schöpfung hebt an. Das Alte, die Trennung zwi-schen Himmel und Erde wird in den Fluten versenkt. Und dann die Stimme, die sagt: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“ (Lk 3,22b). Indem Jesus sich mit seiner Taufe den Sündern an die Seite stellt, darf er ausdrücklich gleichsam als offi-zielle Bestätigung hören, was er bereits in seinem Innern trägt: Du bist der Sohn, du gehörst ganz zu mir. Und du bist das, weil und indem du zu den Sündern gehst. Mit der Stimme „Du bist mein geliebter Sohn“ offenbart uns das E-vangelium aber nicht nur die Lebensmitte Jesu. Es sagt uns damit auch, wie Gott durch seinen Jesus den neuen Anfang setzen will. Die Stimme vom Himmel nämlich redet da mit Worten, wie sie ganz ähnlich schon Jahrhunderte vorher ein Prophet hatte vernehmen dürfen in seinem gottsuchenden Herzen. In Gottes Auftrag durfte er verheißen: „Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze. Das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt... Er schreit nicht und lärmt nicht... Das geknickte Rohr zer-bricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus“ (Jes 42,1-3). Das alles schwingt mit, als Jesus bei seiner Taufe Gottes Stimme ihn anreden hört. In dem Augenblick, da der Gottesgeist ihn zu endgültiger Klarheit über ihn selbst bringt, da weiß er zugleich, wie allein er diesen seinen Auftrag auszuführen hat: Nicht als Marktschreier und nicht so, dass er für klare Verhältnisse sorgt und kurzen Prozess macht mit den Angeschlagenen, den Sündern. Gottes Art so versteht er ist anders: Leise, behutsam ist er selbst dort noch, wo es um Schuld und Sünde, um Heil um Unheil geht. Gewiss: Schuld bleibt Schuld. Aber Gott packt den Menschen nicht bei seiner Schuld an, wie Menschen das tun. Für ihn ist zuerst viel wichtiger das, was noch heil ist. Den glimmenden Docht, den hütet er zuerst einmal, damit er nicht ganz ausgeht. Und von diesem Funken aus sucht er neues Feuer zu entfachen. Lieber erträgt er, was sich gegen ihn richtet, als dass er den, der verwundet ist, sicherheitshal-ber niederträte. So ist Gott. Seine Liebe ist sogar noch größer als seine Gerechtigkeit das erfahren wir aus dem Geschehen am Jor-dan. IV. Das alles ist Jesus bei seiner Taufe zur bezwingenden Gewissheit geworden. Deshalb kann er nicht mehr zögern und macht sich nach der Taufe auf den Weg, den Anbruch des Gottesreiches zu verkün-den und deshalb die Sünder zur Umkehr einzuladen. Wie absolut Jesus seiner ihm in der Taufe geschenkten Gotteserfahrung treu-geblieben ist, das offenbart uns seine Weise, wie er mit den Sün-dern umging – mit Zachäus, dem Oberzöllner, mit der Ehebrecherin, die Jesus herausholt aus ihrer Verlegenheit, indem er die Schuldfra-ge erst gar nicht stellt und stattdessen fragt: „Hat dich keiner verur-teilt?“ „Keiner, Herr“, sie darauf ganz erleichtert Und er: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr“ (Joh 8,10-11)! Er vertraut darauf, dass solche Sündenvergebung sie im Innersten treffen und zur Umkehr bewegen werde. Umkehr nicht als Bedingung, sondern als Folge der Vergebung. Jesus hat den Sündern bedingungslos einen neuen Anfang geschenkt, weil er weiß, wie bedingungslos Gott selber für den Menschen ist. Er heißt ihre Taten nicht gut. Aber er tut, was einzig und allein menschliche Schuld wirklich lösen kann: Er befreit die Sünder aus ihrer Verstri-ckung gratis, umsonst aus Gnade also, weil Gott ein Gott für uns ist. V Es ist jedes Mal dasselbe: Jesus läuft den Sündern nach, weil er weiß, dass Gott einfach von sich aus nicht aufhören kann, den Sündern nachzugehen und um sie zu werben. Er reicht ihnen jedes Mal wieder die Hand zur Versöhnung, er von sich aus, ohne Vorbedingung, obwohl doch sie, die Sünder eigentlich um Vergebung bitten müssten. Ihm ist nichts zu viel, um es dafür dranzugeben, nicht einmal er sich selbst. Jesus versteht sich selbst als die Hand, die Gott den Sündern entgegenstreckt. Und deshalb auch muss alles, was die Apostel und die auf sie gegründete Kirche tun und tun dürfen und tun müssen, dem entsprechen, was Paulus in einem seiner Schreiben an die Gemeinde von Korinth in den ergreifenden Satz gefasst hat: „Wir bitten an Christi statt: laßt euch mit Gott versöhnen“(2 Kor 5,20)! Wir bitten! An Christi statt! Christus als Bittender, als ein die Sünder Bittender! Die umstürzende Botschaft von der liebenden Zuvorkommenheit, von der Unverhältnismäßigkeit Gottes hat Jesus mit allen Fasern seines Herzens gelebt und gepredigt. Genau diese Botschaft war es auch, die ihn in den Konflikt mit den Gottesmännern seiner Zeit brachte, den er schließlich am Karfreitag mit seinem Leben bezahlte unter der Anklage der Gotteslästerung. Doch Jesus hat sein Leben für diese seine Gottesbotschaft daran gegeben, weil er darauf vertraute, dass dieses Zeichen seiner Lebenshingabe bis zum Grunde das unbeirrbare Versöhnungsangebot Gottes an uns beglaubigen werde. Denn jetzt am Kreuz, da Jesus für seine Botschaft von dem die Sünde gratis vergebenden Gott den Tod erleidet, da wird er zum Inbild dessen, was Gott selbst sich antun lässt, um der Vergebende sein zu können: Dass er sich alles, auch das Schlimmste noch antun lässt, damit sich sein innerstes Wesen, die vergebende Liebe am Ende doch noch bewahrheiten kann. So offenbart uns der Karfreitag den Gottessohn Jesus als die in Menschengestalt an uns gerichtete Bitte Gottes, dass wir seine Hand der Versöhnung ergreifen und wieder eins werden mit ihm: Kinder Gottes, wie Jesus, der Sohn, sein Kind ist. Jesus in Person ist das lebendige Sakrament der Versöhnung, Zeichen, das in eins mit seiner Botschaft bewirkt, was es besagt. VI. Wirksam sein freilich kann dieses Sakrament nur, wo in einer Menschenseele dieses Inbild des auf uns wartenden Gottes seinen Resonanzraum findet. Sein kürzester Name heißt: Buße. Und dieser Resonanzraum ist seit je vielgestaltig gewesen: das Gebet um Vergebung, die menschliche Versöhnung mit denen, die gegen uns etwas haben oder gegen die wir etwas haben; das Lesen der Heiligen Schrift und zumal das Hören des Evangeliums; Gesten des Verzichtens und verbunden damit Werke der barmherzigen Liebe; das Glaubensgespräch und die Mitfeier der Eucharistie. Auf besonders intensive Weise kommt Gottes Versöhnungsangebot entgegen im Sakrament der Buße. Wem es wirklich um das rechte Gottesverhältnis, nein besser: um Gottesliebe zu tun ist, wird dieses Angebot nicht von vornherein ausschlagen. Vielleicht fällt dieser Weg der Versöhnung deshalb vielen so schwer, weil sie aus dem Blick verlo-ren haben, dass das ganze Bußsakrament, sogar das Bekenntnis, in dem ich für meine Sünden die Verantwortung übernehme vom Grundton der Freude geprägt ist. Ich bekenne ja in der glaubenden Gewissheit, dass Gott mir vergibt, wenn sich in mir auch nur ein Funken Reue rührt. Nicht umsonst hat der alte Name für Beichte „confessio“ geheißen und das bedeutet auf deutsch nicht nur Be-kenntnis, sondern zugleich auch „Lobpreis“. Das Bekenntnis der Schuld ist immer schon umgriffen vom Bekenntnis des Glaubens. Weil ich von Gott angeschaut und angenommen bin, kann ich mich anschauen und mich zu dem bekennen, was noch angeschlagen, verwundet, dunkel ist an mir. Wer dieses Sakrament empfängt, darf gewiss sein, dass Christus gleichsam schon hineingeht mit ins Bekenntnis (wie einst in den Jordan!) und da ein anderer dem Beken-nenden nicht als Richter gegenübersitzt, sondern mit ihm auf diesen Christus schaut und zu sagen versucht, was Christus jetzt auf das Bekenntnis hin sagen würde. Die ganze Beichte ist ja ein Zwiegespräch mit Christus, also Gebet. Das Freiwerden von den Lasten auf der Seele, das darin geschieht, dieses Aufgerichtet werden und Auf-stehen können, ist so etwas wie der irdische Vorgeschmack dessen, was es heißt, an der Auferstehung teilzuhaben.