Das Geheimnis des Pascha

Gründonnerstag A: Ex 12,1-8

Mitleiden

Der berühmte Sufi-Meister Attar von Nischapur erzählte folgende Geschichte vom König Fazl-Rabbi: Eines Tages besuchte ein alter, auf einen Stock gestützter Mann den König, um eine Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Dabei war er so zittrig und fahrig, dass er - ohne es zu merken - mit der eisernen Spitze seines Stocks in Fazl-Rabbis Fuß stach. Höflich den Worten des alten Mannes lauschend sagte Fazl-Rabbi kein Wort, obwohl er zuerst rot wurde und dann erbleichte ob des Schmerzes durch die Eisenspitze, die fest in seinem Fuß stecken blieb.

Als der Mann mit seiner Angelegenheit zu Ende gekommen war, nahm Fazl-Rabbi ein Stück Papier von ihm entgegen und unterzeichnete es. Erst nachdem der alte Mann, hocherfreut über den Ausgang seines Anliegens, gegangen war, brach Fazl-Rabbi zusammen. Einer der anwesenden Edelmänner sagte zu ihm: Mein Herr, du bist dagesessen, das Blut strömte aus dem Fuß, während der Alte mit der Eisenspitze seines Stocks deinen Fuß durchbohrte, doch du sagtest nichts, überhaupt nichts. Fazl-Rabbi antwortete: Ich gab keinerlei Zeichen von mir, weil ich fürchtete, der Kummer des alten Mannes könnte ihn dann dazu bringen, sich in Verwirrung zurückzuziehen und sein Ansinnen um meine Hilfe fallen zu lassen. Wie hätte ich da - arm wie er war - seine Sorgen auf diese Weise noch vermehren können?

Geheimnis der Erlösung

Fazl-Rabbi war überzeugt, er könne dem alten Mann nur helfen, wenn er sich ihm so gänzlich zuwende, dass er darüber sich selbst ganz zurückstelle, ja sogar Schmerzen erträgt des anderen wegen. Mit seiner Überzeugung rührt Fazl-Rabbi an ein Geheimnis, um das die Weisen aller Zeiten gewusst, das sie zumindest geahnt haben: dass er wirkliche Hilfe und Rettung für einen Menschen in der Gefährdung seines Daseins ohne persönliches Mitleiden nicht gibt. Denken Sie an Franz Kafkas Erzählung - geschrieben Jahrhunderte nach Meister Attar - , in der der Landarzt in der gleichnamigen Erzählung entkleidet und ins Bett des todkranken Jungen an dessen offene Seite gelegt werden muss. Hingabe macht das Geheimnis jeder Erlösung aus. So wird es uns nicht wundern, dass dieses Geheimnis - freilich so ausdrücklich wie nirgends sonst - die Mitte dessen ausmacht, was wir in den Heiligen Drei Tagen als das Wunder unserer Erlösung feiern. Die Lesung aus dem Buch Exodus, die uns die Liturgie des jüdischen Paschafestes schildert, will uns hineingeleiten in dieses Geheimnis, damit wir verstehen, was wir ab heute begehen.

Fest der Befreiung

Es war, als das Volk Israel noch in Ägypten lebte. Hunger hatte es einst dorthin getrieben. Jetzt hatten sie genug, aber der Preis dafür war ihre Freiheit geworden. Versklavt und ihrer selbst entfremdet, hatten sie Fremden zu dienen. Sie schrieen zu Gott, dass er sie rette. Und so geschieht es: Moses darf das Volk auf Gottes Geheiß zur Freiheit ermutigen. So wagen sie eines Tages den Ausbruch - und ihre Flucht aus dem Sklavenhaus gelingt wider alles Erwarten. Dieses Wunder der Befreiung bewahrte sich Israel für alle Zeit in der Feier des Pascha. Dieses Fest aber haben sich die Israeliten damals nicht erfunden, sondern sie greifen dafür zurück auf eine uralte Feier aus der Zeit vor Ägypten, da sie noch Nomaden waren. Da hatten sie beim ersten Frühlingsvollmond ein Fest gefeiert, bevor sie von der Winterweide in der Steppe zu den Sommerweideplätzen auf den abgeernteten Feldern der Stadtbewohner zogen. Bei diesem Fest haben sie ein einjähriges, erstgeborenes Lamm geschlachtet und gegessen und mit seinem Blut die Zelteingänge bestrichen als Schutzzeichen gegen die Unheilmächte und Gefahren, die sie auf ihren Wanderungen und in der Fremde zu bestehen hatten.

So verschlossen uns dieses Tun auf den ersten Blick erscheinen mag, in ihm wird dennoch nichts anders vergegenwärtigt als ein Herzenswissen, dass das Geheimnis der Rettung in der Hingabe besteht. Als Zeichen dafür haben sie das Lamm geschlachtet - erstgeborenen Lämmer galten als besonders wertvoll. Indem sie so etwas, das ihnen viel wert war, drangaben, haben sie die Hingabe sichtbar gemacht und sich zu ihr bekannt. Sich zur Hingabe bekennen heißt so viel wie der Liebe trauen: dass sie rettet und am Leben hält. Mit dem Blut des Lammes haben sie ein Zeichen der Hingabe über sich gezeichnet. Zugleich galt ihnen das Blut - da Sitz des Lebens - als unverfügbarer Besitz Gottes. Das erinnerte sie deshalb daran, woher der Liebe im letzten ihre Macht zufließt - kann doch hingeben und hergeben nur, wer im Vertrauen lebt, selbst immer schon beschenkt zu sein und immer wieder beschenkt zu werden. Mit dieser Hoffnung auf die Macht der Liebe über sie brachen die Nomaden auf in ihre ungewisse Zukunft.

Als nun Israel unter Mose aus der Entfremdung und Sklaverei Ägyptens herausgefunden hatte, da haben sie die Erinnerung an das Wunder ihrer Befreiung nicht zufällig mit diesem uralten Hirtenfest verbunden und in seinen Gesten gefeiert: Denn sie haben - zumindest rückschauend mit den Augen des Glaubens - geahnt, dass ihr einmaliger Aufbruch ins gelobte Land der Freiheit zutiefst an das Geheimnis der Erlösung - also an die Hingabe - gebunden ist: Nur dort, so erzählt das Buch Exodus, wo das Blut des geopferten Lammes an die Türpfosten über die Menschen gezeichnet war, wo sie sich unter das Sinnbild der Hingabe stellten, nur dort war dem Tod Einhalt geboten, der jeden Erstgeborenen unter Mensch und Vieh in der Paschanacht dahinraffte. Wo das Sinnbild der Liebe - das Blutzeichen - fehlt, wo folglich das Gegenteil der Liebe gilt, das Nicht-Hergeben, also die Macht, da hält der Tod Ernte - will sagen: Wo Leben mit den Mitteln der Macht, mit Oben und Unten, mit Unterdrückung und Durchsetzen gesichert und gerettet werden soll - und Ägypten war für Israel das Inbild von Macht schlechthin -, da kommt der Strom des Lebens unausweichlich zum Stillstand - das meint der Tod aller Erstgeborenen bei Mensch und Vieh. Tod derer also, die den Fortgang des Daseins zu garantieren hätten. Wo ein Lebenshaus mit der Hingabe bezeichnet ist, geht die Vernichtung an ihm vorüber. Mit dem Opfer als dem Zeichen der Bereitschaft zur Hingabe beginnt Israel sein Abenteuer des neuen Lebens in der Freiheit. Das ist der Anfang aller Erlösung.

Diesen Glauben hat Israel sich lebendig erhalten in der jährlichen Feier des Pascha. Und wenn Juden dieses Fest begehen, dann erinnern sie sich nicht nur an etwas von früher, an den Exodus, sonder: im Fest wird für sie Gottes Rettertat jedes Mal neu gegenwärtig. Sooft sie feiern - und am meisten in Zeiten der Krise - bekennen sie damit ihre Hoffnung und ihre Bereitschaft, sich von Gott herausführen, ja geradezu herausschlagen zu lassen aus allen pharaonenhaften Zwängen und Nöten. Wo Juden Pascha feiern, glauben sie - manchmal inmitten bitterster Not - hier und jetzt den Beginn eines neuen Exodus, einen Aufbruch aus allen Fesseln. So ist das Pascha in der Gestalt von Zeichen eine Bereitschaftserklärung und Bitte, die lautet: Gott handle an uns auf deine wunderbare Weise. Gott, handle jetzt! Deshalb prägen ja das Paschafest selbst immer die Züge der Hast: So aber sollt ihr essen: eure Hüften gegürtet, Schuhe an den Füßen, den Stab in der Hand. Esst es hastig! - Pascha feiern setzt das Signal zum entschlossenen Ausbruch aus allem, wo "Pharao" noch Wirklichkeit ist; Pascha ist rettender Ausbruch aus dem, was einen noch knebelt und niederdrückt - ist von Gott ermutigter Aufstand gegen das, was dem Leben nicht dient, sondern Leben amputiert. Verhalten scheint so durch die Feier des Pascha hindurch das Bild eines Gottes auf, der es nicht mit den Mächtigen hält, sondern sich verbündet mit den Niedrigen, den Eingesperrten; einer, dem am meisten die am Herzen liegen, denen etwas fehlt - und der deshalb den Niedergedrückten das heilige Zeichen schenkte - das Blut der Hingabe -, unter dem allein der Ausbruch aus den Zwängen in die Freiheit gelingen kann.

Christliches Pascha

Zu Beginn dieser Nacht haben wir diesem uralten Geheimnis geretteten Lebens nachgesonnen, weil in ihm auch schon all das verborgen  liegt, was wir glaubend das Geheimnis unserer Erlösung nennen. Gibt es doch nur eine einzige Erlösung, die wir unser Lebtag lang suchen: die Erlösung von allem, was uns unser selbst entfremdet und unmenschlich macht. Was immer dazu gehören mag: Ängste, Zwänge, Lieblosigkeit, die unser Leben niederdrücken und womit wir einander wehtun - von all dem weiß unser Glaube, dass es einer einzigen Quelle entstammt: der Absonderung von Gott, die das Misstrauen gegen ihn hervortreibt. Stehen wir deshalb - solange wir glauben - nicht zutiefst allesamt in der - bald offenen, bald heimlichen - Erwartung eines neuen, endgültigen Aufbruchs, der - selbst den alten geschichtlich-politischen Exodus noch übergreifend - für immer in das gelobte Land der Freiheit eines in Gott wieder ganz geborgenen Lebens führen wird?

Solcher Auf- und Ausbruch aus den eingespielten Mustern unseres täglichen Lebens ist freilich nicht weniger gefährlich als der Aufbruch der Nomaden einst und der Exodus der Israeliten aus Ägypten. Deshalb kann er nur unter einem schützenden Zeichen gelinge, da sein innerstes, unverfügbares Geheimnis gegenwärtig macht. Bei den Israeliten war es das Blut des Lammes. Und unser Schutzzeichen?

Johannes erzählt in seinem Evangelium, dass Jesus am Kreuz gestorben sei eben zu der Stunde, da im Tempel die Paschalämmer geschlachtet wurden. Von diesem äußeren Zusammenfall der Ereignisse spricht der Evangelist, um uns die Innenseite der Passion des Herrn erkennen zu lassen. Er will uns sagen: Für den großen, endgültigen Exodus aus der Absonderung von Gott ist Jesus selbst an die Stelle des Paschalamms getreten. Mit eigenem Leib und Leben machte er - wie zur Besiegelung seiner ganzen Botschaft - sichtbar, was allein Menschen rettet: die ohnmächtige, im Hergeben stark seiende Macht der Liebe. Und über dies hinaus noch will Johannes uns nahe bringen: Nicht irgendeiner versinnbildet da anstelle des Paschalamms das letzte Fundament des Lebens, sondern er, der Sohn, das lebendige Bildnis Gottes auf Erden - und das heißt: in Jesus übernimmt Gott selbst auch noch den Preis der Hingabe. Die Menschen brauchen nicht einmal etwas opfern von sich, um den Weg in die Freiheit betreten zu dürfen. Sie brauchen nur noch auf den Hingegebenen zu schauen und sich so beschenken lassen mit dem, was Gott von sich hingibt. So wird Jesu Blut ihr sichtbares Schutzzeichen.

Von da aus verstehen wir jetzt auch, warum Jesus uns beim Abendmahl ein so seltsames Abschiedszeichen hinterlassen hat: sein Fleisch und Blut in Zeichen von Brot und Wein. Das hat er getan, damit wir über alle Zeiten hinweg immer glaubend erfahren: Da ist einer da für uns, um uns am Leben zu erhalten, wie Brot es nährt; der sich hingibt, um sich von uns verbrauchen zu lassen für uns, einer der genau so ist, wie Gott heißt: Ich bin da für dich. Und sein Blut, das zu Herzen gehende Sinnbild seiner Hingabe wird uns geschenkt für unseren Exodus heraus aus der Verschlossenheit der Sünde in die Freiheit von Gotteskindern. Und wir zeichnen die Hingabe nicht mehr nur über uns, sondern nehmen sie in uns auf, indem wir aus dem Kelch vom Blut des Herrn trinken, damit die Hingabe, die Liebe uns ganz durchdringe und beseele, damit wir seine Blutsgeschwister werden. Denn einsgeworden mit seiner Lebenskraft - seinem Geist - vermögen wir zu werden wie er: Hingebende Liebe in Menschengestalt. Wo aber das mit einem Menschen geschieht, da hat sein Exodus aus der Sünde und dem Tod schon angefangen; ist es doch allein die Macht der Liebe, die alle Angst und Gewalt überwinden kann.

Indem wir jetzt die Hingabe des Herrn feiern, sein Fleisch essen und trinken von seinem Blut, brechen wir auf zu unserem Exodus. Unter dem Zeichen des Gottes, der so sehr da ist für uns, dass er sich nicht einmal selbst zu gut ist, von uns aufgerieben, ja vernichtet zu werden wie Korn in der Mühle und Trauben in der Kelter, damit wir davon leben -, unter seinem Zeichen begeben wir uns nun betend hinein in die Nacht der Hingabe. Tun wir es voller Glauben, dann wartet da Wunder österlich erweckten Lebens auf uns.