Gedächtnis

Gründonnerstag B: Joh 13,1-15

I
Der Dichter Antoine de Saint-Exupèry hat einmal eine seltsame Beobachtung gemacht: Im Garten eines Bauernhofes befand sich eine Herde von Hausgänsen. Hoch oben am Himmel zog ein Schwarm von Wildgänsen vorüber. Als die Hausgänse die Artgenossen erblickten, da begannen sie auf einmal, ungeschickte Sprünge zu machen und mit den Flügeln zu schlagen, als ob sie es denen freilebenden Wildgänsen gleichtun wollten. In ihren kleinen harten Köpfen, in denen nur bescheidene Bilder von Teichen, Wiesen und Fresströgen lebten, erwachten auf einmal andere Bilder: von Wäldern, Gebirgen und Meeren – und die Sehnsucht, unendlich ins Weite zu fliegen. Doch nach Sekunden schien alles vorüber: Die Hausgänse versanken wieder in dem Trott zwischen Trog und Tod, Fressen und Gefressen werden – als hätte sie die Ahnung, was sie einst waren und eigentlich sind, nie berührt.

II
Saint-Exupèry selber nennt die kleine Geschichte ein Gleichnis. Ich glaube, er hat recht. Geht es uns mit uns selber nicht manchmal auch so? Wir schnappen einen Satz auf, lesen einen Wortfetzen, sehen ein Gesicht – und in diesem Augenblick, da zerreißt es in uns wie Nebelschwaden und einen Moment lang wird uns klar, wer wir sind, wo wir stehen, worauf es ankommt, wohin unsere tiefste Sehnsucht geht. Und kaum, dass uns diese Klarheit ergriffen hat, tauchen wir schon wieder unter im Gewohnten und Gewöhnlichen, das unser Leben halt so ausmacht.

III
Das ganze Unglück der Welt hat einen einzigen Grund: dass wir Menschen so leben, als hätten wir nie erfahren, was unser Eigentliches, unser Wesentliches, ja: unser Geheimnis ausmacht. Das Vergessen unserer selbst – woraus wir leben und was zu uns gehört –, das lässt uns so viel missverstehen und so viel falsch machen; das ist es auch, was die Angst um uns selber aufrührt, aus der unentrinnbar das Böse aufkeimt.

Christ, Christin sein heißt: Ich lasse mich daran erinnern, wer ich bin. Daran, wie Gott, der Schöpfer, mich gemeint hat. Und daran, worauf es hinauswill mit mir. Alles, was Jesus sagte und tat und wie er war –, es hatte dieses eine zur Mitte: dass wir wieder begreifen, wenigstens erahnen, was es um uns ist, uns vergängliche, zerbrechliche Wesen, deren Sehen und Hoffen dennoch ins Unendliche greift. Bevor Jesus von uns ging, gehen musste wegen seiner Botschaft vom Geheimnis des Menschseins, hat er – gleichsam alles Vorhergehende zusammenfassend – ein Erinnerungszeichen gesetzt, das den Seinen eben dieses Geheimnis unauslöschlich in die Seele senkte: die Fußwaschung.

IV
Der, den sie Herr nennen, weil er von Gott und vom Leben zu reden weiß auf eine Weise, die so manchen das Oberste zuunterst kehren lässt in seinem Dasein wie beim Zöllner Zachäus oder der Sünderin, die ihm mit ihren Tränen die Füße wäscht und sie mit ihren Haaren trocknet; der, von dem etwas ausstrahlt, was befreit und tröstet und aufrichtet wie bei den Heilungen und Dämonenaustreibungen; der, von dem sie manchmal so wenig begreifen, dass sie nur noch schweigen können und von dem sie trotzdem gewiss sind, dass er ihnen bis in den letzten Grund der Seele sehen kann – er kniet sich nieder und tut ihnen den Dienst, den der unterste Diener im Haus zu verrichten hatte: den Ankommenden den Straßenschmutz von den Füßen zu waschen. Ich bin dir zu Diensten, heißt das. Ich bin mir nicht zu gut, mich schmutzig zu machen für dich. So viel bedeutest du mir. Für dich verzichte ich auf das, worauf ich Anspruch hätte und was ich eigentlich bin. Und ich will nichts für mich dafür. Ich tue es einfach so – weil du es bist.

Es gibt aus meiner südstaatlichen Heimat eine Anekdote, von der man sagt, sie habe sich wirklich zugetragen: Der kleine Maxl sagt in der Grundschule zu seinem Lehrer, den er sehr mag, immer, wenn er ihn anspricht: Du, Herr Lehrer! Selbiger versucht dem Schüler beizubringen, dass er ihn mit „Sie“ anzusprechen habe. Hilft aber nichts. Immer: „Du, Herr Lehrer“. Dem wird es eines Tages zu bunt und der Maxl bekommt eine Strafarbeit (gab‘s früher mal, ich bezeuge es als Betroffener): Du schreibst jetzt bis morgen zehn Mal: „Ich muss zu meinem Lehrer ‚Sie‘ sagen.“ Am nächsten Tag kommt der Maxl und überreicht dem Lehrer ein halb Dutzend Blätter, darauf geschrieben steht: „Ich muss zu meinem Lehrer ‚Sie‘ sagen.“ Hundertmal. Der Lehrer ist entgeistert: Maxl, zehnmal hab‘ ich gesagt, warum schreibst Du den Satz hundertmal? – Weils des Du bist.

Weil Du es bist. Wie Du bist – und seiest Du noch so fremd und so schräg und so angeschlagen. Papst Franziskus hat genau dieses Darüberhinaus, dieses Überschwängliche unberechneter Sympathie sichtbar gemacht, als er wenige Wochen nach seinem Amtsantritt im römischen Jugendgefängnis auch einer jungen Muslima die Füße gewaschen hat. Genau dort hat der Widerstand der etablierten Kurie gegen ihn angefangen. Im Herbst dieses Jahres, bei der nächsten Bischofssynode wird es zum Showdown um diese Denkart kommen.

V
Kein kleines Kind kann auf die Welt kommen und am Leben bleiben, ohne dass andere es so unberechnet gut mit ihm meinen. Kein alter Mensch kann in Würde seinem Ende entgegengehen, ohne dass andere ihn unberechnet gütig und liebevoll diesem seinem Ziel entgegentragen. Und überhaupt: Keiner von uns kann auch nur einen Augenblick menschlich, also ohne Angst und im Vertrauen leben, dass es schon recht werden wird mit ihm, wenn andere ihm nicht wenigstens einen Schimmer solcher unberechneter Zuneigung schenken. Wir sagen „Liebe“ für all das. Es ist ein ausgebranntes Wort. Aber es benennt unser Eigentlichstes. Unser Wesen. Die Liebe – unser Geheimnis.

VI
Wie die Jünger einst und die Christinnen und Christen später von selbst aus den Gleichnissen Jesu erahnten, dass der Gott, von dem er redete, so sein muss, wie er – dieser Jesus – war,  genauso ahnten sie auch, dass in seiner gütigen Liebe, die sie anrührte, ja manchmal auch bestürzte, wie den Petrus im heutigen Evangelium, – dass in ihr Gottes Geheimnis selber aufleuchtete – sein Eigentliches. Sein Wesen. Aber was heißt das denn? Was heißt denn, wenn da in 1 Joh 4,16 wörtlich steht, dass Gott die Liebe sei? Ein Philosoph, dem man gern attestiert, der erste systematische Atheist zu sein, hat dazu Wichtiges auf den Punkt gebracht: Ludwig Feuerbach. Er wollte das Christentum nicht zerstören, sondern hinsichtlich seines Zentrums auf den Punkt bringen. Er war darum kein Atheist, sondern ein – im auf die Theologien seiner Zeit gesprochen – Antitheist. Ein Kritiker der in ihren eigenen Dogmen erstarrten Religion. Darum hat er den vom – aus seiner Sicht unaufgeklärten Phänomen – Christentum transportierten Anspruch an die praktische Vernunft anerkannt, jedoch erst wirklich zu sich bringen wollen. Dieser Anspruch heißt mit einem Wort ‚Liebe’. Und was ist denn so falsch an der anthropologischen Umkehrung von 1 Joh 4,16, dass die Wahrheit des Satzes „Gott ist die Liebe“ darin bestehe, Subjekt und Prädikat zu vertauschen, also zu sagen, dass die Liebe göttlich sei? Das Ineinander von Diesseits und Jenseits, das sich wie ein roter Faden durch Jesu Predigt zieht, deutet genau da hin.

Sie, die Liebe ist das offenliegende Leitmotiv Feuerbachs. Fast mag ich ihn als einen Patron des Gründonnerstags bezeichnen. Noch heute liest sich mit einer gewissen Vergnüglichkeit, wie ebendies dem revolutionsgestimmten Friedrich Engels auf die Nerven ging. In seinem Essay Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie schreibt er:
„Aber die Liebe! – Ja, die Liebe ist überall und immer der Zaubergott, der bei Feuerbach über alle Schwierigkeiten des praktischen Lebens hinweghelfen soll – und das in einer Gesellschaft, die in Klassen mit diametral entgegengesetzten Interessen gespalten ist. Damit ist denn der letzte Rest ihres revolutionären Charakters aus der Philosophie verschwunden, und es bleibt nur die alte Leier: Liebet euch untereinander, fallt euch in die Arme ohne Unterschied des Geschlechts und des Standes – allgemeiner Versöhnungsdusel!”*

Engels hat nichts verstanden. Nichts. Vielleicht deutet sich da schon das Desaster der Staatssysteme an, die im Letzten auf ihn und Marx zurückgehen.

VII
Doch: Wenn des Ewigen, des Allmächtigen Wesen die Liebe ist, dann sind wir auch gewiss: Die Liebe, die oft scheinbar unsinnige, die ohnmächtige, die wehrlose, die wird niemals vergebens sein. Sie bleibt. Sie hält. Wie Gott immer bleibt und immer uns hält. Ist sie doch sein Wesen. Sie trügt nicht. Jedem ihrer Worte, jedem ihrer Zeichen darf man trauen. Auch der Fußwaschung und dem Zeichen, in dem sie mit ihrem Ich-bin-für-dich greifbar und sichtbar geblieben ist bis heute: in Brot und Wein, das ja nichts anderes bedeutet als: Du darfst von mir leben und durch mich dich deines Lebens freuen. Darum beginnen wir jetzt mit diesem Zeichen den Weg, den wir in den österlichen Tagen mit dem Herrn mitgehen. Es ist der Weg der Liebe. Wir dürfen ihm trauen, Herr, weil des Du bist.

* ENGELS, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Marx-Engels Studienausgabe. Bd.1: Philosophie. Hrsg. von Iring Fetscher. Frankfurt a.M. 1982. 182–222. 206.