Hoffnung live

2. Advent B: Mk 1,1-8

I
Der aus der ehemaligen DDR stammende Dichter Erich Fried hat 1981 unter dem Titel „Die drei Steine“ folgendes Gedicht niedergeschrieben:
       

        „Wie lange kann ich noch leben
        wenn mir die Hoffnung
        verlorengeht?“
        frage ich die drei Steine.

        Der erste Stein sagt:
        „Soviel Minuten du
        deinen Atem anhalten kannst
        unter Wasser
        noch soviel Jahre“.

        Der zweite Stein sagt:
        „Ohne Hoffnung kannst du noch
        leben
        solange du ohne Hoffnung
        noch leben willst“.

        Der dritte Stein lacht:
        „Das hängt davon ab was du
        noch Leben nennst
        wenn deine Hoffnung tot ist“.


II
Hoffnung ist so notwendig zum Leben und zum Überleben wie die Luft zum Atmen. Auf Dauer leben kann wohl niemand, ohne dass sie oder er hoffen wollte. Oder vielleicht muss ich sagen: Auf Dauer leben will kein Mensch, der nicht auch hoffen kann. Denn Hoffnung und Leben sind eins im Grunde. Dass der Dichter da Wahres sagt, Wort für Wort, das wissen wir alle, ahnen es zumindest. Denn unbestechlich sind wir, wo es ums Wesentliche geht. Ohne Hoffnung kein Leben, nicht einen Funken davon. Damit mag der Dichter schon recht haben. Aber: Haben wir auch Grund zu hoffen?

III
Das Evangelium Jesu Christi ist von Anfang bis Ende nichts anderes als die Versicherung, dass wir wirklich Grund haben zur Hoffnung. Vielmehr noch: Nicht, was vielleicht einmal sein wird und was wir machen könnten, sagt uns das Evangelium. Sondern ohne Lametta, klipp und klar spricht es aus, was wir zu erwarten haben, wenn wir uns auf es einlassen. Und auch, wie das anfängt, was das Evangelium zu versprechen hat. Eben deshalb fängt das älteste Evangelium, dasjenige aus der Feder des Hl. Markus, einfach mit dem Wort „Anfang“ an, wie wir vorhin gehört haben: Anfang der guten Nachricht Jesu Christi, des Sohnes Gottes. In diesem Wort – griechisch „arché“ –, da tönt, nebenher gesagt, buchstäblich eine ganze Welt mit, eine, die sozusagen bis in jene Urzeit zurückreicht, da im abendländischen Denken Religion und Philosophie noch kaum geschieden waren: Denn auf die „arché“, den Ursprung und Urgrund von allem, was ist, richteten sich schon die Denkversuche derer, die man Vorsokratiker nannte und die an der Schwelle zwischen Mythos und Logos nach der Wirklichkeit und dem Leben in ihr fragten: ein Thales, ein Anaximenes, ein Anaximander etwa. Man muss den Evangelisten Markus, diesen so prosaisch schreibenden Erfinder der Gattung „Evangelium“, nicht gleich zum Philosophen stilisieren, aber irgendetwas von dieser liebenden Weisheitssuche, diesem Philosophischen, wenn man es wörtlich übersetzt, schwingt bei ihm auch mit – was nicht zuletzt die bis heute unaufgeklärten Nähen zwischen dem Markus- und dem Johannesevangelium, diesem spekulativsten der vier neutestamentlichen Jesus-Biogramme verraten. Oder anders und bündig gesagt: Markus war überzeugt, dass er mit seiner Version der Jesus-Geschichte Wichtiges über das Woher und Wohin und Wie und Warum der Welt und unseres Daseins in ihr zu sagen habe.

IV
Und worin besteht die arché, der Anfang der Guten Nachricht, die unserer Hoffnung Grund gibt? Für uns heute vielleicht verwirrend, aber jeden gläubigen Juden damals in die Mitte der Seele treffend fasst das Evangelium diesen seinen Anfang in ein Wort aus dem Alten Testament:
Es begann, wie bei dem Propheten Jesaja geschrieben steht: Ich sende meinen Boten vor dir her; er soll den Weg für dich bahnen. Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen!
Die zwei Erinnerungen schlechthin aus der Geschichte des Volkes sind da zusammengeflossen: diejenige an den Auszug aus Ägypten hinüber ins gelobte Land – er soll den Weg für sie bahnen; und die an das – Jahrhunderte spätere – Ende des babylonischen Exils: Bereitet dem Herrn den Weg, heim nach Jerusalem. Die Erinnerung an die zwei bewegendsten Ereignisse aus der Geschichte des Gottesvolkes sind Erinnerungen an Ereignisse der Befreiung. Der Befreiung aus allem, was niederdrückt und knechtet und unmenschlich macht. Und das heißt: Das Evangelium sagt von sich selbst: Mein Anfang, die Summe meiner guten Nachricht für dich lautet: Es gibt für dich ein Freikommen von allem, was dich hinabbeugt.

V
Und wie fängt die Freiheit an, die das Evangelium anbietet? Nicht mit einem Aufstand fängt sie an, und nicht mit Verhandlungen. Die Freiheit des Evangeliums fängt mit Umkehr an – mit dem, wofür Johannes der Täufer steht. Johannes ist ein Mensch, dessen Botschaft so grobschlächtig klingt, wie sein Äußeres wirkt. Mit einem Rock aus Kamelhaaren bekleidet isst er Heuschrecken und wilden Honig. Ein Außenseiter, der sich nicht das Geringste um die Etikette schert. Und so auch seine Botschaft: Mauschelt nicht herum, macht euch nichts vor! Ändert euch und euer Leben von Grund auf, sonst seid ihr nichts anderes als Kleinholz, das im Ofen verpufft. Und er tauft die Leute: Er taucht sie unter im Jordan, d.h. sie gehen freiwillig unter Wasser, sinnbildlich dafür, dass sie Schluss machen mit dem Bisherigen und neu anfangen, auf dass es gut ausgehe mit ihnen.

Das ist eine Antwort auf die Frage nach der arché, dem Ursprung und Urgrund von allem, was ist und Bestand hat, wie sie aufregender nicht sein könnte. Du, Menschenkind, rührst an das, was wirklich trägt und Dich hält, wenn Du in die Bewegung der Umkehr, griechisch metánoia, einschwingst. Metánoia übersetzt man am besten mit „umdenken“. Wenn du umdenkst von dem, was MAN so denkt und wonach MAN entsprechend handelt, dann öffnet sich ein Raum der Freiheit, von dem Du zuvor nichts gewusst hast. So etwas wie „Sachzwänge“ oder „Alternativlosigkeit“ – derzeit Lieblingsworte unserer politischen Klasse – gibt es nicht.

Das ist die Freiheit, die das Evangelium zu geben weiß. Sie heißt: Ich kann einen Schlussstrich ziehen und darf neu anfangen. Johannes sagt dafür: Nach mir kommt ein Stärkerer, der euch mit Heiligem Geist taufen wird. Das meint: Genau dann, wenn ein Mensch bereut, was er verfehlt hat, geschieht von Gott her an ihm etwas absolut Neues, das er sich zuvor nicht hätte ausdenken können: Er wird befähigt zu der Freiheit, endlich er selber zu sein. Wer dieses Evangelium hört, der kann eigentlich nur noch gespannt sein, was denn geschehen wird, wenn er mit dem Anfang dieser guten Nachricht anfängt: Und das ist Advent.