Die Heilige Woche der Philosophen

Vergessene Innenseite

Karsamstag/Osternacht C

I
Jetzt ist es Ostern geworden, Quelle, Mitte und Hochfest unseres Glaubens. Halleluia! Ja, wahrhaft hallelu-JAH: Gepriesen sei der Herr! Aber eigentlich haben wir eines bei unserer Feier der Heiligen Drei Tage nahezu ganz vergessen: dass es auch den Karsamstag gibt. Wir versammeln uns am Karfreitag zur Todesstunde des Herrn und treffen uns wieder jetzt am Sonntagmorgen. Und selbst wenn wir Osternacht gestern Abend gehalten hätten, würde der Karsamstag ausgefallen sein, weil dann dieser Vorabend schon zum Sonntag gehört hätte.

Natürlich: Der Karsamstag – italienisch übrigens Sabato Santo, Heiliger Samstag – hat seine offizielle Besonderheit darin, dass er neben dem Karfreitag der einzige Tag des Kirchenjahres ist, an dem keine Eucharistie gefeiert wird. Ein Tag der Stille und der Leere. Dennoch hat sich im Lauf der Geschichte das Emotionale in den Kirchen und Gemeinden gleichsam sein Recht geholt. Wenn schon den frühchristlichen Glaubensbekenntnissen wichtig war, von Jesus zu sagen, dass er „passus, crucifixus et sepultus“ war (gelitten hat, gekreuzigt und begraben wurde), dann sollte eben dieses „sepultus“ auch seinen angemessenen Widerhall in der Frömmigkeit finden. Und das war gar nicht so falsch gedacht, weil man die wahre Tiefe des Osterjubels und der beglückten Erleichterung, die mit ihm einhergeht, ohne diesen Hintergrund des Tages der Grablegung Jesu und seines damit verbundenen Hinabsteigens in das Reich des Todes gar nicht wirklich begreifen kann.

II
So kam es, dass sich vom 10. Jahrhundert über gut ein Jahrtausend der Brauch der heiligen Gräber einbürgerte. Während die eigentliche Osternachtliturgie zur Arkan-Sache des Klerus im Morgengrauen des Karsamstags geworden war, wurden die heiligen Gräber immer prächtiger gestaltet und zum Ziel regelrechter Wallfahrten der Gläubigen von Kirche zu Kirche. Die Gräber selbst waren lebensechte Inszenierungen mit Skulpturen oder Bildern des am Kreuz gestorbenen Herrn, nicht selten begleitet von den Gestalten aus der biblisch erzählten Grablegung: also Gottesmutter, Maria von Magdala, Joseph von Arimathäa und Ratsherr Nikodemus und oft noch ein paar dazu. Bisweilen hat man dann auch das Kreuz aus der karfreitäglichen Kreuzverehrung oder die übrig gebliebene Eucharistie des Gründonnerstags symbolisch zu Grabe getragen. Alles umgeben von einem Blumenmeer und, zumal in dörflichen Gegenden, bewacht von echten Grabwächtern, die meist aus der Riege der Dorffeuerwehr stammten. So wurde die sabbatliche Nüchternheit und Leere mit einer Frömmigkeit gefüllt, die emotional einem Passionsspiel nahekam. Aber ist nicht genau dies das Anliegen aller Verkündigung, ihre Adressaten in das von ihr Verlautbarte mit Herz und Sinn zu verstricken, auf dass sie sich in der Botschaft selber fänden?

III
Darum ist es alles andere als ein Zufall, dass große Dichter, Künstler und Denker gerade diesem liturgisch so kargen Vorhof des Ostermorgens ihre Aufmerksamkeit schenkten. Von Friedrich Spee stammt ein Lied, das schon 1628 in einem Gesangbuch als Christ Grablegungslied bezeichnet wurde:

„O Traurigkeit, o Herzeleid!
Ist das denn nicht zu klagen.
Gott des Vaters einigs Kind
Wird zu Grab getragen.

O höchstes Gut, unschuldigs Blut!
Wer hätt dies mögen denken,
Dass der Mensch sein´ Schöpfer sollt
An das Kreuz aufhenken."

Kind zu Grabe tragen, unschuldiges Blut und ein Geschöpf, das seinen Schöpfer am Galgen aufknüpft: Das ist die Sprache der Affekte, die die Singenden und Hörenden durch Mitgefühl in den Bann ihrer Botschaft in den Bann schlägt.

Und wenn die fünfte Strophe den Blick auf Maria lenkt,
ruft sie natürlich die Urikone des Karsamstags wach: die Pietà:

„Wie große Pein, Maria rein,
Leidet über die Maßen;
Dann bist du von jedermann
Ganz und gar verlassen.“1

Wie von selbst tauchen im Vernehmen solcher Verse heute Bilder der Pietà des Michelangelo vor dem geistigen Auge auf. Größere Grablegungsszenen mit vielen Figuren mögen entgegen dieser auf Maria bezogenen Einsamkeitsemphase durchaus so etwas wie ein Geborgensein des toten Christus im Schoß der Gemeinde (also auch in uns selbst) insinuieren.

Doch schlägt ein anderes Bildrepertoire aus den Heiligen Gräbern wie eine Bombe in Menschenseelen ein: hyperrealistische Bilder der vom Kreuz abgenommenen Leiche, auf nicht mehr steigerbare Herausforderung gebracht durch das Bild Leib des toten Christus im Grab, geschaffen 1521/22 von Hans Holbein dem Jüngeren (heute im Kunstmuseum Basel), das Gemälde einer Grabnische, das den Gekreuzigten in entsetzlicher Todesstarre zeigt, die Farben der Verwesung annehmend. Welche Erschütterung dieses und ähnliche Bilder auszulösen vermögen, kann man in Fjodor Dostojewskis Roman Der Idiot nachlesen. Mehrfach kommen dort Figuren des Werks auf dieses Bild zu sprechen, das Dostojewski selbst 1867 gesehen hatte. Eine der Figuren, Ippolyt, fragt sich:

„(W)enn alle die Jünger (…) alle, die an ihn und sein Göttliches glaubten, diesen Leichnam gesehen haben (…) – wie konnten sie da, nachdem sie diesen Leichnam gesehen hatten, noch glauben, dass er auferstehen werde? Unwillkürlich musste man sich sagen: wenn der Tod so schrecklich und die Gesetze der Natur so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie sie besiegen, wenn selbst ER sie nicht überwand, ER, der die Natur zu Lebzeiten besiegte, und dem sie sich unterwarf. (…)
Und wenn der Meister selbst am Vorabend seiner Hinrichtung dieses Bild seines Leichnams hätte sehen können, wer weiß, ob er sich hätte kreuzigen lassen?“2

Wer ahnen möchte, was Ostern ihm verspricht, muss die Versuchung solchen Karsamstags-Atheismus nahe an sich herankommen lassen.

IV
Der tote Christus im Grab war aber mitnichten nur Sache etwaig emotional aufgerauhter Gläubigen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wir begegnen vielmehr dem Karsamstags-Stachel auch im Schaffensfokus moderner Denker und Dichter.

Lange vor dem erschütterten Dostojewski hat kein Geringerer als Blaise Pascal von der Gefahr des scheinbar so leeren, stillen Karsamstags gesprochen. In seinen berühmten Pensées steht unter dem Titel Grab Jesu Christ zu lesen:

„Jesus Christus war tot, doch am Kreuz wurde er gesehen. Im Grab ist er tot und dem Blick entzogen.
Jesus Christus wurde nur von Heiligen zu Grabe gelegt.
Jesus Christus hat im Grab kein einziges Wunder gewirkt.
Es sind nur Heilige, die das Grab betreten.
Dort gelangt Jesus Christus zu neuem Leben, und nicht am Kreuz.
Jesus Christus lehrt als Lebender, als Toter, als Begrabener und als Auferstandener.
Jesus Christus hatte auf Erden keinen Ort, um sich auszuruhen, als das Grab.
Seine Feinde haben ihn ohne Unterlass gequält, bis zum Grab.“3

Pascal spürt da eine ungeheure Provokation, die vom Grab Jesu ausgeht und nicht zuletzt auf die jeweilige Leserschaft seiner Bemerkungen zielt: Wenn nur Heilige das Grab betreten – wie ist das mit uns, die wir vor dem Eingang eines Heiligen Grabes stehen? Kann man sich ohne Heiligkeit ihm überhaupt nahen? Romantische Todessehnsucht wie etwa bei Novalis mag das bisweilen überdeckt haben, doch gerade die Philosophen hat eben dies beschäftigt, auch wieder Hegel, aber mehr noch Schelling, der nach dem Tod seiner Gattin Caroline in der Dialogschrift Clara diesen Faden aufnimmt und den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt (so der Untertitel) zu meditieren und sich fragt: Gibt es eine Brücke zwischen dort und hier?

IV
Eben genau dies hat dann schließlich im 20. Jahrhundert als im Grunde einziger Philosoph und Theologe Hans Urs von Balthasar in seiner Theologie der drei Tage getan auf eine Weise, die das Dramatische des Karsamstags, das Pascal intonierte, bis zur Gänze ausschöpft. Dazu kommt er, weil er das Kreuz Christi von Anfang an in die Schöpfung eingeschrieben sieht. Er versteht Gottes innerstes Wesen von der Kenosis, der Selbstentäußerung geprägt, weil er so von Anfang an Gedeih und Verderb seines Werkes samt der menschlichen Freiheit auf seine Kappe nimmt. Genau das legt das Schweigen des Karsamstags bis zum Grunde offen: Der tote Jesus teilt das Schicksal der Toten, und zwar in allen seinen Hinsichten. Sein Mitleid mit den Sündern – laut Bonaventura weit schmerzhafter als die körperliche Pein der Passion – führt ihn bis in die Verließe des Infernos der absoluten Gottferne. Dort macht er sich mit den Verdammten solidarisch, Aber weil er ist, wer er ist, kann er die Tore der Unterwelt zerbrechen und die dort Verharrenden auf den Weg der Befreiung führen. Zahllose Ikonen der Ostkirche zeigen diese Szene, in der die Posten der Höllenpforte sich überkreuzend zusammenbrechen und Christus die Hand des Adam, des ersten Wartenden ergreift, um ihn und in ihm die ganze vorchristliche Menschheit in die Welt des Lebens zu ziehen. Jetzt gibt es für immer keinen Abgrund mehr, in den ein Mensch geraten könnte, weil Christus bereits freiwillig vor ihm hinabgestiegen ist. An das Bestürzende solch liebender Solidarität bindet von Balthasar seine Hoffnung, dass sich der verstockteste Sünder noch ihr sozusagen im Feuer der Reue geschlagen geben werde – und darum die Hölle im allerletzten Ende leer sein werde, ohne dass Gottes Barmherzigkeit seine Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt hätte.

V
So gelesen begegnet uns im Mysterium des Karsamstags in der Tat die Innenseite des Ostermorgens mit seinem strahlenden Glanz. Aber es ist ein belehrter Glanz, einer, der um die Abgründe weiß, denen er sich im Letzten verdankt. Philosophisch-poetisch gesehen wandelt sich das Grab des Karsamstags zum Grab eines neuen Orpheus, einem der diesmal nicht scheitert wie sein Vorgänger beim Zurückholen der geliebten Eurydike, weil er die Kenosis aushält und sich nicht vorschnell, des Erfolgs sich vergewissernd, umdreht.

Deshalb dürfen wir jetzt die mit dem Orpheus Christus die Osterlieder anstimmen, die die ganze Schöpfung rühren. Der scheinbar skandalöse Hymnus vom toten Gott, den ich am Anfang der Karfreitagspredigt zitierte, geht übrigens in der zweiten Strophe so weiter:

„Kommt lasst uns die Finsternis singend bestehn,
in der er hängt,
auf dass wir darinnen
die Sonne sehn, die uns umfängt.
Kyrie eleison."

Aber jetzt, da wir den Karsamstag mit hineingenommen haben, wird uns kein Osterlied mehr als Triumphgeheul wegen „erkrachender Felsen und stürzender Wachen“ etc. über die Lippen kommen. Es werden eher verhaltene Halleluia sein, die um die Abgründe wissen. Und die passen auch besser zu einer Kirche, die genauso wie ihr Herr dem Gesetz der Kenosis verschrieben war, aber anders als er ihm in Vielem nicht folgen mochte. Aber wenn sie umkehrte und dieses Gesetz der Entäußerung sich wieder zu eigen machte gegen ihre Machtallüren und ihren Klerikalismus, dann gäbe es auch für sie ein neues Auferstehn.


1Zit. Nach: Becker, Hansjakob u.a. (Hg.): Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. München 2001. 193-199.
2Dostojewski, Fjodor: Der Idiot. Zit. Nach Stock, Alex: Poetische Dogmatik. Christologie. 3. Leib und Leben. Paderborn u.a. 1998. 209-210.
3Pascal, Blaise: Pensées. Nr.467.