Exodus mehrfach

1. Fastensonntag C: Dtn 26,4-10


I
Man kann sich kaum dagegen wehren, mir jedenfalls geht es so: Die erste Sonntagslesung dieser Fastenzeit ist eine aus dem Rückblick erzählte Fluchtgeschichte, im Kern entstanden wohl vor gut 2600 Jahren, zur Betonung ihrer Dignität dem bald sterbenden Mose in den Mund gelegt: Und man hat, ob man es will oder nicht, unwillkürlich die Bilder der letzten Monate im Kopf: Die endlos an Grenzposten und Aufnahmestellen wartenden Flüchtlingsreihen, vollgepferchte Notunterkünfte, in Plastikbahnen gehüllte Menschen dem Schnee und Regen ausgesetzt.

II
Es ist im Grunde unglaublich – und wir überhören es deswegen auch meist: Genau das Gleiche wird uns von Israel erzählt – und was da erzählt wird, war derart einschneidend und grundstürzend, dass diese Fluchtgeschichte zum Kern des Glaubensbekenntnisses des Gottesvolkes wurde, das Mose in der heutigen ersten Lesung den Seinen buchstäblich in die Seele meißelt. So sollst Du sagen, Israel:

Mein Vater war ein heimatloser Aramäer.
Er zog nach Ägypten,
lebte dort als Fremder […]
Die Ägypter behandelten uns schlecht, […]
Wir schrien zum Herrn, […]
Und der Herr hörte unser Schreien und […]
Führte uns mit starker Hand und hoch erhobenen Arm aus Ägypten,
er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land […]
Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, Herr.

III
Wenn Sie sich jetzt vielleicht dächten: Naja, Flucht damals, Flüchtlinge heute – das ist ja ein bisschen trivial, die Parallele, vielleicht gar gezogen zum subkutanen Moraltransport. Wenn Sie das argwöhnten, müsste ich antworten: Zu kurz gedacht, viel zu kurz. Die Geschichte von der Flucht Israels, dieses Nomadenvölkleins in einer Ecke des vorderen Orients, ist nämlich nur deswegen zu der Leiterzählung schlechthin der jüdischen und dann auch christlichen Tradition geworden, weil sich in dieser Geschichte die Grundsituation menschlichen Daseins wie in einem Brennspiegel sammelt: Unser Wissen, dass wir nirgends in der Welt daheim sind im strengen Sinn des Wortes, gerade so wie der heimatlose Aramäervater Israels und dass wir immer und immer wieder aufbrechen, fliehen müssen aus Versklavungen, Verkettungen, Verstrickungen – materiellen, politischen, ideologischen, geistigen, emotionalen. Schon der frühchristliche Großtheologe, der Ägypter Origenes, und Jahrhunderte später der fast noch größere Dante haben die Exodus-Geschichte genauso gelesen: als einen Roman des großen, nie endenden Abenteuers der Freiheit und Menschenwürde.

Und wenn das wahr ist, wenn es stimmt, dass die israelische Fluchtgeschichte eine solche Tiefendimension hat, die zeitlos bis in die Existenz des einzelnen Menschen von heute reicht, dann springen einen ein paar Gedanken an, die aufwühlen können: Denn dann sind wir im tiefsten selbst Heimatlose, immer gewesen und heute noch, selbst dann, wenn wir in einer noblen Villa wohnten. Am meisten merken wir das an einem offenen Grab, denn auf diesem letzten Weg brauchen wir bekanntlich keinen Möbelwagen mehr. Und wenn das stimmt mit der zeitlosen Wahrheit des Exodus, dann waren auch wir selbst und sind seit je für immer im tiefsten Flüchtlinge, also Menschen, die froh sind, für eine Weile irgendwo unterzukommen und aufgenommen zu werden und ein Stück Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu erleben. Manche unter uns, zumindest ihre Eltern oder Großeltern, haben das vor gar nicht so langer Zeit buchstäblich noch am eigenen Leib erfahren, wie etwa auch meine Mutter und meine Großmutter. Ich werde ihre Erzählungen von der Vertreibung aus der Heimat, den Verlust von Haus und Hof und so manches lieben Menschen nie vergessen. Aber das aufgenommen-, ja wenigstens geduldet-Werden gehört zu den existentiellen Grundwahrheiten von allen, auch wenn das oft durch ein Anspruchsdenken und die scheinbare Selbstverständlichkeit von Besitzständen verdeckt sein mag. Und auch gilt, was Mose seinem Volk am Ende der heutigen Lesung ins Gewissen schreibt: Dass das Volk, nachdem es wieder Boden unter den Füßen spürt, die ersten Früchte der neuen Heimat als Dankgabe vor Gott bringen möge als Erinnerungszeichen daran, dass es dieses Beglückende nicht sich selbst verdankt.

Gilt das, bevor wir von den derzeit ankommenden Flüchtlingen Dank erwarten, nicht zu allererst für uns selbst, dass wir –  viele von uns –, die wir schon so lange reich beschenkt und im Wohlstand leben, allen Grund hätten, im Teilen dessen, was uns gehört, diesem Dank Ausdruck verleihen? Und überhaupt: Was heißt eigentlich, selbstverständlich Ansprüche zu erheben und auf Besitzstände zu pochen – als ob es fraglos normal wäre, dass in Deutschland die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über 52% des Gesamtvermögens verfügen und weltweit den 62 reichsten Person so viel gehört wie der ärmeren Hälfte der Menschheit zusammen! Schon Immanuel Kant hat das im 18. Jahrhundert völlig anders gesehen: In seinem berühmten Aufsatz Zum ewigen Frieden hat er jedem Menschen weltweit, wo immer er als Fremder hinkommt, einen Anspruch auf „Wirthbarkeit“, also Hospitalität zugesprochen – und jetzt wörtlich:

„[…] vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere.“1

Das ist der eigentliche Horizont, unter den die Flüchtlingsfrage jetzt zu stellen ist: Die Tatsache, dass weltweit ca. 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind vor Gewalt, Krieg, Hunger und Hoffnungslosigkeit, davon allein 11 Millionen in Afrika Richtung Europa, das hat doch entscheidend damit zu tun, dass jetzt in der Situation radikal gewordener Globalisierung die sogenannte zweite und dritte Welt der ersten Welt – also uns – ein paar Rechnungen präsentieren, die seit der Zeit des Kolonialismus offen sind.

Wir Wohlstands-Günstlinge werden in absehbarer Zeit auf Manches, vielleicht auf Vieles verzichten müssen. Dieser Herausforderung werden wir nur gewachsen sein, wenn wir anfangen, uns selbst als jüngste Nachfahren des heimatlosen Aramäers und des Exodusvolkes Israel aus der Lesung vorhin zu verstehen – und ja, auch aufbrechen und ausziehen aus so mancher Luxussuite, in der wir uns gesellschaftlich und kirchlich eingerichtet haben. Ich zögere nicht, eben eine der großen Herausforderungen zu sehen, der wir uns in der nun beginnenden Fastenzeit zu stellen anfangen könnten.

IV
Diese Herausforderung ist aber nicht nur eine geistige und moralische, sondern auch eine politische. Es beunruhigt zutiefst, dass es mittlerweile erkennbar unterschwellige Verbindungslinien zwischen extrem rechtskonservativen kirchlichen – katholischen und evangelischen – Milieus einerseits und Pegida- bzw. AfD-nahen Überzeugungen andererseits gibt. Das ist schlicht Verrat an der Glaubensgemeinschaft der christlichen Kirchen. Wachsamkeit bedarf es da seitens aller, die ihren Glauben ernst nehmen. Was da selbst aus manchem Priester- und Theologenmund kommt, ist eine Schande.

V
Dass es da nicht nur gesellschaftlich, sondern auch innerkirchlich zu einem Auseinanderdriften der Überzeugungen kommt, hat natürlich auch damit zu tun, dass die Flüchtlingsfrage untrennbar mit der Ankunft einer großen Zahl verschiedenst geprägter Angehöriger des Islam zusammenhängt. Aus weitverbreiteter gegenseitiger Unkenntnis der jeweils anderen Religion und eingespurten Klischees wuchern da schnell Vorurteile und Ängste, die in Aggressionen umschlagen können, auf beiden Seiten. Und vielleicht stellt sich auch da für uns, die hier seit einer Weile Ansässigen, eine wichtige Aufgabe denen gegenüber, die jetzt zu uns kommen. Denn sie sind doch, unerachtet ihrer kulturellen und religiösen Unterschiede, wie wir – sind wie wir genauso Kinder des heimatlosen Aramäer-Vaters und Nachfahren der Exodusgemeinschaft. Die Aufgabe, die sich da stellt, hat neulich der bekannte Prager Soziologe, Religionsphilosoph und Studentenpfarrer Thomas Halik präzise auf den Punkt gebracht. Er meinte: So wie es der Kirche damals gelungen ist, die Früchte der antiken Kultur und Bildung über die Wirren der Völkerwanderung ins beginnende okzidentale Mittelalter zu retten, so könnte sie sich heute daran machen, das Denken der Neuzeit und Moderne an den westlich werdenden Islam zu vermitteln, weil doch sie, die Kirche ungleich mehr von Religion versteht als die meisten Agnostiker und im selben Augenblick ungleich mehr von Modernität als viele Muslime. Eine Riesenaufgabe, aber sie wäre lohnend, weil die Kirche darüber eine im eminenten Sinn dienende Kirche würde, die – wie Papst Franziskus das will –  bis an die Ränder geht. Und weil sie zugleich belohnt würde mit Einsichten in die Schätze von Kultur, Frömmigkeit und Aufklärung, über die der Islam schon lange verfügt, auch wenn Vieles davon momentan durch tonangebende reaktionäre Strömungen verschüttet ist.

Und überdies könnte man angesichts einer solchen Aufgabe auch gleich noch die albernen Scharmützel, die derzeit der Regensburger und der Passauer Bischof über eine angeblich zu liberale Universitätstheologie wieder mal anzetteln, in der untersten Ladenhüterschublade endlagern. Exzellenzen, träumt weiter, wenn ihr meint, noch lang mit Euren Kalenderspruch-Weisheiten durchzukommen! Und, liebe Bischöfe, achtet doch einmal auf den Ton in den Euch bejubelnden Zuschriften auf Facebook oder kath.net. Es kann einem angst und bange werden, welcher Bodensatz giftigen Ressentiments da aufwabert – ein ganz ähnlicher hasserfüllter Hetzton wie bei der Polemik gegen die Flüchtlinge, nur diesmal nach innen.

Dabei ist es doch ganz einfach: Auch Theologien – amtliche wie akademische – müssen immer wieder auf Exodus-Ochsen-Tour gehen, sonst sterben sie im Ägypten der Resignation und dem Stahlgehäuse der eigenen Selbstgewissheit. Und das gilt für beide Seiten. Fastenzeit ist Exoduszeit – für alle, im Großen eines Amtes wie im Kleinen persönlicher Gottsuche. Machen wir uns auf den Weg!

1 Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. VIII. Berlin; Leipzig 1923. 341-386. Hier 358.