Ob lüsterne Mönche oder unkeusche Priester: Im Mittelalter bekamen Angehörige des geistlichen Standes immer wieder Vorwürfe der sexuellen Unmoral und Perversion zu hören. Dahinter verbarg sich mehr als "Sex and Crime-Literatur", wie die Historikerin Dr. Sita Steckel vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" sagt. Die Geschlechter-Polemik sei im Mittelalter Teil einer Debatte gewesen, in der verschiedene religiöse Gruppen über Religion zu streiten lernten. "Die zunächst anekdotenhaft wirkenden Geschichten entpuppten sich als wirkungsvolle Argumente. Alltägliche Verstöße gegen die Geschlechterordnung wurden zum Beweis für die moralische Unterlegenheit des Gegners." Sita Steckels Beitrag "Perversion als Argument" ist eins der Themen, die der Exzellenzcluster "Religion und Politik" in seiner öffentlichen Ringvorlesung bis Februar behandelt: Unter dem Titel "Als Mann und Frau schuf er sie" geht die gut besuchte Reihe der Frage nach, wie Religionen die Geschlechterordnung beeinflussten – von der Antike bis heute.
"Religiöse Reinheit wird mit sexueller Reinheit, abweichender Glaube mit Zügellosigkeit gleichgesetzt."
Wohl jede Religion enthält Normen, die die Ordnung der Geschlechter betreffen, wie die Historikerin und Sprecherin des Exzellenzclusters, Prof. Barbara Stollberg-Rilinger, erläutert, die die Ringvorlesung organisiert hat. Die Bedeutung von Religion für den Alltag sei kaum irgendwo so greifbar wie im Geschlechterverhältnis. "Die Rollen von Mann und Frau werden durch mythische Erzählungen in einer fernen Vergangenheit verankert, durch rituelle Praktiken reproduziert und durch kirchliche Strukturen verstetigt", betont die Wissenschaftlerin. "Angriffe gegen eine andere Religionsgemeinschaft treten oft als Diffamierung von deren Geschlechternormen auf: Religiöse Reinheit wird mit sexueller Reinheit, abweichender Glaube mit Zügellosigkeit gleichgesetzt." Religiöse Sinnsysteme und kirchliche Institutionen tragen demnach wesentlich dazu bei, den Geschlechterunterschied symbolisch aufzuladen, die jeweiligen Normen als "natürlich" darzustellen und eine bestimmte Geschlechterordnung so gegen Wandel zu schützen.
Eine institutionelle Unterordnung der Frau unter den Mann vertreten nach den Worten der Historikerin traditionell die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. "Das hat mit den patriarchalischen Gesellschaften zu tun, denen die Religionen entstammen und die sich in Torah, Bibel und Koran niedergeschlagen haben." Bis heute dürften Frauen bekanntlich nicht Priester oder Imam werden. "Katholische Kirche und Islam konservieren insofern eine vormoderne, patriarchalische Gesellschaftsstruktur." Dass die evangelische Kirche und das Judentum Frauen heute nicht mehr von geistlichen Ämtern ausschließen, zeige, "dass religiöse Institutionen sich auf den historischen Wandel der Geschlechterordnung einstellen können. Heilige Texte sind auslegungsfähig".
Den Islam von heute als „frauenfeindlich“ zu bezeichnen, lehnt Barbara Stollberg-Rilinger ab. Viele Muslime seien nicht patriarchalischer gesonnen als manch konservativer Christ. "Derlei Allgemeinplätze dienen nicht zuletzt auch dazu, sich im Westen der eigenen Fortschrittlichkeit und moralischen Überlegenheit zu versichern. Es fragt sich aber, ob damit nicht auch von fortbestehenden Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern hierzulande abgelenkt wird." Glaubensvorstellungen können laut der Historikerin aber auch dazu beitragen, eine herrschende Geschlechterordnung infrage zu stellen, "indem man sich etwa auf die spirituelle Gleichheit vor Gott oder auf individuelle prophetische Inspiration beruft". Fundamentalisten von heute sei die Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen ein zentrales Anliegen, so Barbara Stollberg-Rilinger. Sie sähen in der Gleichberechtigung der Frauen "all das, was sie an der Moderne beunruhigt." So definierten sich solche frommen Auserwählten in Christentum, Judentum und Islam oft über besonders strenge Geschlechternormen. "Sie gründen die Identität ihrer Gruppe auf die besondere sexuelle Reinheit und Keuschheit vor allem der Frauen, um sich von der sündhaften Umwelt abzugrenzen."
Aktuelle Fragen dieser Art werden in der Veranstaltungsreihe des Exzellenzclusters intensiv erörtert, von der Rolle der Frauen in der Kirche und dem Zölibat über Kopftuch und Homosexualität im Islam bis hin zu feministischen Aufbrüchen im Judentum. Es sprechen Fachleute aus Geschichtswissenschaften, Soziologie, Theologie, Rechtswissenschaft, Ethnologie und Literaturwissenschaften. So beleuchtet die katholische Theologin und Sozialethikerin Prof. Marianne Heimbach-Steins, welche Provokation Geschlechterverhältnisse für Kirche und Theologie darstellen können. Die Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck stellt die Entwicklung von Frauen im Rabbinat dar, von der ersten Rabbinerin Regina Jonas bis heute. Religiöse Neutralität des Staates und Geschlechterordnung thematisiert Rechtswissenschaftler Dr. Bijan Fateh-Moghadam am Beispiel des Burka-Verbots.
Viola van Melis