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Im Blitzlichtgewitter: Die mediale Aufmerksamkeit ist seit dem Ausbruch des EHEC-Erregers riesig.

Fotos: Universitätsklinikum Münster

"Ich hätte alles dafür gegeben, wenn es diesen Ausbruch nicht gegeben hätte." Niemand hat mitgezählt, wie oft Prof. Dr. Dr. h.c. Helge Karch diesen Satz in den vergangenen Wochen formuliert hat. Gefühlt waren es hunderte Male. Seit 30 Jahren erforscht er ein Phänomen namens „Enterohämorrhagische Escherichia coli“. Seit einigen Wochen kennt ganz Deutschland dieses Bakterium, aber nur unter der entsprechenden Abkürzung: EHEC. Seit dem Ausbruch dieses tückischen Krankheitserregers hat ein wahrer Ansturm auf das Institut für Hygiene des Universitätsklinikums Münster (UKM) und der Medizinischen Fakultät eingesetzt. Es sind Wochen, die die Mitarbeiter wohl nie vergessen werden. Doch der Reihe nach:

 

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Prof. Helge Karch

Am 20. Mai läuten bei Helge Karch die langjährig geschulten "Alarmglocken": Fachleute aus zwei deutschen Städten berichten dem Direktor des Instituts für Hygiene über Fälle des hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS) bei Erwachsenen. Ausgelöst wird die Erkrankung durch EHEC, doch eigentlich sind hauptsächlich Kinder betroffen. Helge Karch ist sicher: "Hier stimmt etwas nicht. Das sind keine normalen Infektionen." Seit 2005 ist das Institut für Hygiene das vom Robert Koch-Institut bestellte Referenzlabor für HUS. Erste Proben von betroffenen Patienten treffen am 23. Mai ein.

Um welchen Erregertyp handelt es sich? Ist es ein neuer Typ oder ein alter Bekannter? Diese Fragen stehen in den folgenden 48 Stunden im Mittelpunkt der Bakterienforscher. Als unschätzbarer Vorteil erweist sich dabei die in Münster aufgebaute "HUSEC-Referenzstammsammlung". Diese umfasst 42 EHEC-Referenzstämme. In den letzten drei Jahren ist kein weiterer HUSEC-Stamm dazugekommen. Muss die Sammlung nun erweitert werden?

TV-Sender wie Phoenix und n-tv übertragen live

Zwei Tage später, genau um 19.12 Uhr des 25. Mai, hat das Spezialistenteam aus Münster den Erregertyp identifiziert und Gewissheit: Für das aktuelle Ausbruchsgeschehen in Deutschland ist kein neuer, sondern ein bereits bekannter HUSEC-Stamm verantwortlich. Die exakte Bezeichnung: O104:H4, Sequenztyp "ST 678". In der Referenzkollektion wird dieser Typ als "HUSEC041" bezeichnet. Weltweit war er bis dato eine absolute Rarität und bei Ausbrüchen noch nie in Erscheinung getreten. "Er erschien wie Phönix aus der Asche", beschreibt Helge Karch das plötzliche Auftreten.

Während die Wissenschaftler weiter mit Hochdruck in den Laboren arbeiten, stehen die Telefone in der UKM-Pressestelle und dem Institut für Hygiene nicht mehr still. Erste Journalisten reisen an, harren stundenlang für ein Interview vor dem Institutsgebäude aus. Die erste offizielle Pressekonferenz zur Identifizierung des Erregers findet am 26. Mai statt. Phoenix und n-tv übertragen live – ein Novum in der Geschichte des UKM. Die mediale Aufmerksamkeit steigt in den kommenden Tagen weiter an: Im Portrait der Süddeutschen Zeitung bezeichnet sein Gießener Kollege Prof. Georg Baljer Helge Karch als "Gottvater, was EHEC angeht", die Bild macht ihn kurze Zeit später zum "EHEC-Papst“, dpa beschreibt ihn als einen „in sich ruhenden Workaholic“.

Parallel wird die wissenschaftliche Forschung vorangetrieben, und die Arbeiten an einem Schnelltest laufen. Seit Jahrzehnten erforscht Helge Karch EHEC: "Ich versuche, mich in das Bakterium hineinzudenken." Er hat zahlreiche Ausbrüche miterlebt, viele Stämme als Erster beschrieben und dazu beigetragen, dass es seit 2001 in Deutschland eine Meldepflicht für das Auftreten von HUS und für den EHEC-Nachweis gibt.

Eine Woche nach Eingang der ersten Probe steht der Schnelltest zum Nachweis des EHEC-Ausbruchsstammes zur Verfügung. Die hierfür nötigen Laborinformationen und Testprotokolle werden direkt online zur Verfügung gestellt, damit das Testverfahren in jedem molekularbiologischen Labor durchgeführt werden kann (www.ehec.org). Eine weitere Pressekonferenz folgt. Das Medieninteresse ist noch größer. Im Blitzlichtgewitter erklärt Helge Karch: "Wir haben nicht eine Sekunde über eine Patentierung nachgedacht. Uns ist wichtig, dass der Test schnell genutzt werden kann."

In den folgenden Tagen werden hunderte von DNA-Proben als Referenzen an mikrobiologische Labore versandt. Die Resonanz darauf ist überwältigend – zahlreiche Dankesschreiben für den zuverlässigen Test, der problemlos in den Laboratorien funktioniert, erreichen das Team. Für Helge Karch eine Bestätigung seiner jahrezehntelangen Arbeit, in denen er oft auf Widerstände gestoßen ist. "Doch wir haben uns nie von unserem Ziel abbringen lassen, effiziente Strategien zur EHEC-Bekämpfung zu entwickeln", sagt Helge Karch.

Es ist kein Zufall, dass der Bauernhof-Besitzer und Herr über mehrere Bienenvölker oft von "wir" und "uns" spricht. "Ohne ein so professionelles und eingespieltes Team wären diese Leistungen nicht in so kurzer Zeit möglich gewesen. Dafür bin ich meinem hochmotivierten Team und den Kolleginnen und Kollegen aus dem Institut für Medizinische Mikrobiologie, insbesondere meinem Kollegen und Freund Prof. Georg Peters, sehr dankbar. Sie haben uns Tag und Nacht mit Rat und Tat zur Seite gestanden und geholfen, dem hohen Druck in dieser Ausnahmesituation standzuhalten."


"Wenn keine gesicherten Daten vorliegen, werde ich nervös."

Im Institut für Hygiene wird trotz wenig Schlaf und ungezählter Überstunden weiter erfolgreich gearbeitet. In der Nacht zum 2. Juni liegen die Ergebnisse zur Genomsequenz des Ausbruchsstamms in Münster vor. Aktuell (Stand 17. Juni) wird diese Sequenz mit dem Stamm aus dem Jahr 2001 abgeglichen. Ergebnisse werden dann veröffentlicht, wenn sie von mehreren Seiten bestätigt werden können. Denn bei aller persönlichen Leidenschaft, mit der Helge Karch die EHEC-Forschung betreibt, eines will er nicht: spekulieren. Da ist er durch und durch Wissenschaftler. "Ich mag es nicht, wenn keine gesicherten Daten vorliegen. Dann werde ich nervös."

Judith Becker/Stefan Dreising