Legasthenikerin studiert

Tatkräftige Unterstützung bekommen Menschen mit Behinderungen von Prof. Udo Schmälzle und Mitarbeiterin Pia Henneken (Mitte). Maria ist die erste Legasthenikerin.  

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Zehn bis 15 Minuten. So lange liest Maria (Name geändert) an einer Seite. Noch viel länger braucht sie, eine vergleichbare Menge an Wörtern und Sätzen selber halbwegs fehlerfrei zu schreiben. Maria ist Legasthenikerin, leidet an einer Lese- und Rechtschreibschwäche, und studiert an der Universität Münster. Hausarbeiten, Klausuren, ellenlange Lektürelisten. Das alles sind feste Bestandteile eines Studiums – und für Maria beinah unüberwindbare Hürden. Wenn sie auf einen Text schaut, sieht sie Buchstabensalat. Wenn sie Gelesenes verschriftlichen soll, kann sie den Inhalt kaum strukturiert zu Papier bringen. Nervosität und Stress verschlimmern die Probleme. Und trotzdem: Maria ist jetzt im zweiten Semester, hat gute Noten und ist fest entschlossen, den Abschluss zu machen. "Ich habe das Abitur gepackt und danach eine Bank-Lehre erfolgreich abgeschlossen, also kann ich auch das Studium meistern", sagt die 22-Jährige selbstbewusst.

Hilfe bekommt sie dabei von Prof. Udo Schmälzle und seiner Mitarbeiterin Pia Henneken. Der Rektoratsbeauftragte für Behindertenfragen unterstützt Maria in vielen Bereichen. "Er schreibt zum Beispiel die Professoren an und informiert sie über meine Lese- und Rechtschreibschwäche", erzählt sie. Mit Erfolg: Die meisten Dozenten suchen anschließend das Gespräch mit ihr, um über die Schwierigkeiten zu reden. "Oft vereinbaren wir dann, dass ich anstatt mit einer Hausarbeit oder Klausur mit einer mündlichen Leistung geprüft werde", sagt Maria. Ab und zu kommt sie um eine Klausur trotzdem nicht herum. "Dann steht ihr mehr Zeit zu als anderen Kommilitonen", weiß Udo Schmälzle. So passiert es, dass Maria in einem gesonderten Raum sitzt, neben ihr Sehbehinderte oder ausländische Studierende, denen ebenfalls ein höheres Zeitpensum zugestanden wird. Aufgrund der ärztlichen Diagnose Legasthenie dürfen die Rechtschreibfehler in der Klausur am Ende aber nicht zu einem Notenabzug führen.

Aktuell überlegt Maria zusammen mit Udo Schmälzle und Pia Henneken, wie sie ihre Bachelorarbeit gestalten kann. Die muss sie zwar erst in ein paar Semestern abgeben, doch je eher an einer Lösung gearbeitet wird desto besser. "Viele Studenten mit Beeinträchtigungen durch Krankheiten oder Behinderungen kommen leider viel zu spät zu uns", sagt Udo Schmälzle. "Oft ist es dann schon zu spät, weil sie mehrfach durch Prüfungen gerasselt sind oder das BAföG wegen Überschreitung der Regelstudienzeit gestrichen wurde."

Für Maria sind die alternativen Prüfungsformen oder das von Udo Schmälzle empfohlene Diktierprogramm für den PC zwar hilfreich, aber ein Problem bleibt: das Lesen. "Irgendwie muss ich den Stoff ja lernen", sagt sie. Am Wochenende sitzt sie deshalb oft mit ihrer Mutter zusammen, die ihr die vielen Texte vorliest. "Ich mache mir währenddessen Notizen", erklärt Maria. Diese Lernstrategie ist zwar mühselig, trotzdem hat Maria das Studium noch keine Sekunde lang bereut. "Im Gegenteil", sagt sie, "hier an der Uni habe ich das erste Mal das Gefühl, dass mit meiner Lese-Rechtschreibschwäche richtig umgegangen wird. Udo Schmälzle und Pia Henneken haben wesentlich dazu beigetragen."

Maria will anderen Legasthenikern Mut machen, auch den Schritt Richtung Uni zu wagen, denn immerhin leiden laut Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie vier bis fünf Prozent der Bevölkerung an Lese- und Rechtschreibschwäche. Für Udo Schmälze war Maria die erste Legasthenikerin, die sich hilfesuchend an ihn gewandt hat. Er und Maria sind sich einig, dass viel zu wenige Studenten sich trauen, Hilfe anzunehmen. "Dabei ist es oft ihr gutes Recht", betont Udo Schmälzle.

Alice Büsch