Wissensdurstig

Prof. Christian Fischer (l.) und David Rott vom ICBF fördern hochbegabte Schüler.
Foto: Peter Sauer
Der siebenjährige Benedikt muss wegen eines gebrochenen Arms ins Krankenhaus, zum Röntgen. "Zum Was?", fragte er den Arzt. Der erklärt ihm das Röntgengerät und wer es erfunden hat. Seitdem hat Benedikt nur noch einen Wusch: mehr erfahren über Wilhelm Conrad Röntgen. Die 12-jährige Lisa-Marie will wissen, warum sich Geschwisterkinder streiten, Sechstklässler Robert interessiert sich für schwarze Löcher, Tobias geht der Frage nach, warum Turnschuhe quietschen.
Das alles machen sie nicht in der Schule im normalen Unterricht, sondern im Rahmen des Forder-Förder-Projekts (FFP) des Internationalen Centrums für Begabungsforschung (ICBF) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Dabei geht es um die Diagnostik und Förderung von selbstgesteuerten Lernprozessen bei begabten Kindern. Das Projekt richtet sich an begabte Schüler, die zu jung für die "Junior-Uni" an der WWU sind und deren speziellen Interessen im regulären Schulunterricht nicht immer beziehungsweise nicht hinreichend berücksichtigt werden können.
Nach Projekten für hochbegabte einzelne Schüler (ab Klasse 2) und für Schulklassen startet am 14. Februar das Pilotprojekt FFP-A: das Forder-Förder-Projekt Advanced, das sich an fortgeschrittene Schüler richtet, konkret an die Schüler der 8. und der 9. Klasse des Wilhelm-Hittorf- und des Annette von Droste-Hülshoff-Gymnasiums in Münster. Für das Projekt verlassen die Schüler ein Schulhalbjahr lang freiwillig den regulären Unterricht für ein bis zwei Schulstunden in der Woche. Sie müssen den Stoff, den sie in dieser Zeit versäumt haben, später allerdings nacharbeiten.
Zu ihren selbst ausgewählten Forschungsthemen erstellen die Schüler eine schriftliche Arbeit und einen Vortrag. Unterstützt werden sie dabei von Lehramts-Studierenden der WWU. Jeweils ein Student kümmert sich um zwei Schüler. "Es ist verblüffend, wie viel Wissen die Schüler besitzen", sagt Prof. Christian Fischer vom Internationalen Centrum für Begabungsforschung (ICBF), "doch es fehlen ihnen grundsätzliche Kenntnisse über richtige Literaturrecherche, Datenerhebung und Zeitmanagement." Als Quelle für Referate kennen die Schüler oft nur das Internet, getreu dem Motto "Google und Wikipedia werden schon weiterhelfen." Unterscheidungen zwischen Primär- und Sekundärliteratur sind ihnen fremd.
Genau hier setzen die Studierenden ein, als pädagogische Begleiter, Mentoren und Coachs. Sie begleiten die Schüler von der Themenfindung über die Informationssuche bis hin zum Verfassen der Arbeit und Erarbeitung eigener Vortragsmedien und -techniken. Sie vermitteln Strategien zum forschenden Lernen, Lesen und Schreiben und zum Zeitmanagement. So erschließen sich die Schüler eine eigene Fragestellung, durchlaufen den forschungslogischen Prozess bis zur Untersuchungsauswertung. "Die Schüler haben spannende Fragen schnell im Kopf, etwa nach der Entstehung von Sprachen oder von künstlichen Herzklappen. Die Frage ist nur: Wie gehe ich damit um", erläutert Projektkoordinator David Rott. Christian Fischer ergänzt: "Diese Strategien fördern das forschende selbstregulierte Lernen." Sie kanalisieren konstruktiv die besonderen Begabungen und die speziellen Interessen der Schüler. "Wir gehen nicht von vorgegebenen Themen des Lehrplans aus, sondern von der persönlichen Motivation des Schülers", erläutert Koordinator David Rott. Die Studierenden geben den Schülern Werkzeuge an die Hand, mit denen sie ihren eigenen Forscherdrang perfektionieren können, mit denen sie ihrem Ziel näher kommen, Fragen auf ihre Antworten zu finden. Diese Strategievermittlung wissenschaftlichen Arbeitens verläuft unterschwellig. "Wir packen den Schülern gewissermaßen einen Rucksack", fasst David Rott zusammen.
"Der enge Kontakt zu den Schülern ist eine wichtige Erfahrung, die in keinem Lehrbuch steht"
Außerschulische Lernorte spielen dabei eine wichtige Rolle. Bei Führungen in der Stadtbücherei erfahren die Schüler, wie man geeignete Literatur finden kann. Und wer sich mit bestimmten naturwissenschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt, der braucht vielleicht Geräte, die es nur an der Universität gibt, oder einen Experten, der das Thema schülergerecht erläutern kann.
Der Vorteil für die Lehramtsstudierenden liegt in der Verbindung zwischen theoretischen Grundlagen im Seminar und der praktischen Umsetzung im Forder-Förder-Projekt (FFP). David Rott hat die Unterrichtsfächer Deutsch und Pädagogik studiert und als Student selbst am Forder-Förder-Projekt teilgenommen. Mittlerweile koordiniert er die neue Form des FFPs: das Forder-Förder-Projekt Advanced für Schüler der 8. und 9. Klassen. "Der enge Kontakt zu den Schülern, was sie bewegt, was sie wissen wollen und wie sie arbeiten, ist eine wichtige Erfahrung für Studierende, die in keinem Lehrbuch steht." Die Kinder arbeiten nach persönlichen Interessen, werden von den Studierenden wissenschaftlich gestärkt und dokumentieren in ihrer Arbeit ihre Ergebnisse. "Für die Schüler bedeutet dies eine echte Herausforderung und eine gute Vorbereitung für das Juniorstudium oder Wettbewerbe wie 'Jugend forscht'. Für die Studierenden bedeutet es individuelle Förderung hautnah", betont Christian Fischer.
Die Projekte mit dem Schwerpunkt Lehrerbildung durch Schülerförderung bieten Studierenden die Möglichkeit, sich im Bereich des selbstgesteuerten und des forschenden Lernens auszuprobieren. David Rott kann es nur weiterempfehlen: "Sonst ist das immer nur sehr abstrakt. Hier habe ich es am eigenen Leib erfahren. Die Studierenden können sich in einer neuen Lehrerrolle ausprobieren." Das Projekt macht ihn stärker für die spätere Arbeit als Lehrer, da er viel über die Schüler erfährt. "Wir wollen die Lehrerrolle erweitern – vom einseitigen Wissensvermittler zum vielseitigen Lernberater, auch als Mittler zwischen den Fachbereichen in Kooperation mit dem Zentrum für Lehrerbildung", betont.
Bundesweit, in Österreich und der Schweiz hat das münstersche Modell Nachahmer gefunden
Und spannend sind natürlich auch die Forschungsergebnisse der gecoachten Schüler. Ihre Arbeit stellen sie mündlich vor, natürlich Powerpoint gestützt, ganz wie die erwachsenen Wissenschaftler auch und natürlich auch standesgemäß, also im münsterschen Schloss vor rund 400 Gästen. Dazu gibt es eine eigene Facharbeit im Umfang von 20 bis 50 Seiten, für die sie fünf Monate Zeit haben.
Im Jahr 2010 haben die Mitarbeiter des ICBF 340 Schüler an münsterschen Schulen betreut, knapp 100 Kinder präsentierten sich im Schloss. Auch für Prorektorin Dr. Marianne Ravenstein ist diese Form der Begabungsforschung eine nachhaltig gute Sache, um den Studierenden gute Einblicke in die Schulen zu bieten. Und das Modell aus Münster trägt Früchte: Bundesweit sowie in Österreich und in der Schweiz haben die Begabungsprojekte der Universität Münster bereits Nachahmer gefunden. Am 2. Juli werden die nächsten Schülerforscher ihre Arbeiten im münsterschen Schloss vorstellen.
Peter Sauer