Manchmal geht’s nicht ohne Hilfe

Barrierefrei ist noch nicht jeder Weg an der WWU. Christine Beirer war und ist oft auf Einzelinitiativen angewiesen.
Foto: Peter Grewer
Sie kommen mit dem Fahrrad oder zu Fuß, steigen Treppen hinauf, öffnen Türen und klappen in den Hörsälen die Schreibpulte hoch, wenn sie in die engen Bankreihen gehen und danach ihren ausgewählten Sitzplatz runter. 92 Prozent aller Studierenden der Universität Münster haben wahrscheinlich noch nie über irgendeine dieser Bewegungen nachgedacht, weil alles so automatisch wie selbstverständlich abläuft. Semester für Semester.
Doch bei acht Prozent der Studierenden, immerhin rund 3000 Personen, ist dies anders. Sie haben eine chronische Erkrankung oder eine Behinderung. Wie etwa Christine Beirer. Heute arbeitet die 30-Jährige an der Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO). Doch bis dahin war es ein langer Weg, auf dem nicht alles einfach von selbst rollte, wie die Räder ihres Rollstuhls.
2000 zog Christine Beirer zum Studium der Kommunikationswissenschaft, Anglistik und Germanistik von ihrem Heimatort am Bodensee nach Münster. "Am Anfang des Studiums war die Beschilderung der Rollstuhlzugänge ziemlich schlecht", erinnert sie sich. Christine Beirer musste manche barrierefreie Eingänge in Detektivarbeit aufspüren. Da geht schon mal kostbare Zeit verloren. Ihre Dozenten hat sie in durchweg guter Erinnerung: "Als sie erfuhren, dass ich auf dem Weg zu einer Pflichtveranstaltung drei Treppenstufen im Weg hatte, war binnen einer Woche eine Rampe da." Ein anderes Mal, im Fürstenberghaus, half ihr ein findiger Hausmeister. Der beseitigte eine hinderliche Zwischenstufe flugs mit einer Rampe Marke Eigenbau. "Wenn ich Dozenten anschrieb, ob sie sich um die Verlegung der Veranstaltung in einen zugänglichen Raum bemühen würden, kümmerten sie sich darum", freut sie sich noch heute. "Ohne dieses Engagement wäre ein erfolgreicher Abschluss für mich um einiges schwerer gewesen."
Probleme gab es dennoch: Manche Türen ließen sich nicht öffnen, weil ein Türöffner fehlte. In andere Räume kam sie nicht rein, da die Eingangsbereiche für Rollstuhlfahrer trotz geschickten Manövrierens zu eng waren. Doch die junge Frau ließ sich nicht beirren, sprach Kommilitonen direkt an. Mit Erfolg. Sie halfen ihr, auch beim Verlassen der Gebäude. Doch nicht immer konnten sie helfen. "Manchmal hatte ich auch keinen geeigneten Platz zum Schreiben", berichtet sie. Gerade in älteren Hörsälen gab und gibt es noch Klappsitze mit fester Bank oder Stühle mit Schwenkarm. Spezielle Pulte für Rollstuhlfahrer? Fehlanzeige! Ein Ärgernis ihrer Studentenzeit wird derzeit in Teilen beseitigt: der Eingang ins Schloss, der behindertenfreundlich gestaltet wird. Noch wichtiger: ebene Zuwege zu den Rampen. "Das Kopfsteinpflaster ist für einen Rollstuhlfahrer eigentlich nicht zu bewältigen."
Einige andere Studierende mit Behinderung, die "wissen.leben" angesprochen hatte, wollten sich nicht öffentlich äußern. Wie Pia Henneken von der Behindertenberatung der WWU berichtete, habe zum Beispiel ein Studierender mit der Begründung abgesagt, er komme momentan im Studium gut zu Recht und sei froh darum. Er möchte keinen neuen Wind machen und seine Probleme nicht neu aufrollen. Über den Allgemeinen Studierendenausschuss wie auch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe fanden sich ebenfalls keine Studierenden, die über ihre Erfahrungen berichten wollten. Die Behindertenbeauftragte der Stadt Münster, Doris Rüter, wundert sich: "Offenbar sind Studenten mit Behinderung nicht so gut organisiert wie Jugendliche oder Senioren." Auch zu den Vollversammlungen kommen bislang nur wenige Studierende mit Handicap. Offenbar bestreiten sie mehr als Einzelkämpfer ihr Studium.
"Kisten und Co. schleppen zur Not eben meine Kollegen."
Die Angst vor einem Scheitern an der Universität ist bei Menschen mit Behinderungen deutlich größer. Ihr Studium verläuft meist schwieriger und kostspieliger. Selten gelingt es in der Regelstudienzeit. Und dann war da noch das NRW-Wissenschaftsministerium. Das hatte bei der Einführung von Gebühren für Langzeitstudenten Behinderte und chronisch Kranke zunächst vergessen. Ausnahmeregelungen? Zunächst Fehlanzeige. "Das war ein großes Ärgernis", erinnert sich Christine Beirer, "aber wenig überraschend. Es ist ein Indiz dafür, dass Barrierefreiheit und Chancengleichheit hierzulande eben nicht strukturell verankert sind, sondern auf Einzelinitiativen beruhen." Das sei in anderen Ländern, etwa Brasilien, anders.
Nach dem Studium war es für Rollstuhlfahrerin Christine Beirer nicht leicht, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Schließlich fand sie bei der Arbeitsstelle Forschungstransfer an der Robert-Koch-Straße einen Job. Ein Arbeitsplatz, an dem es Aufzug, Rampe und ein Behinderten-WC gibt. "Kisten und Co. schleppen zur Not meine Kollegen", sagt sie mit einem Lächeln. Ein paar Unigebäude weiter sieht das jedoch mit Barrierefreiheit und Mitdenken gleich wieder anders aus: Die Rampen sind zugestellt, meistens mit Fahrrädern. "Gegen solche Hürden komme ich schlecht an", sagt sie.
Weiterhin behält Christine Beirer deshalb die von der Uni angestrebte Barrierefreiheit weiter kritisch im Auge. "Bei einem solch großen Altbestand an Gebäuden wird Barrierefreiheit ein Dauerthema bleiben. Für die Zukunft muss beachtet werden, dass alle Räume in Gebäuden, die derzeit neu errichtet werden, für Menschen im Rollstuhl erreicht werden können." Ihren Optimismus hat sie trotz ihrer Behinderung nicht verloren. Er hilft ihr durchs Leben. "Wenn man eher pessimistisch eingestellt ist, wird man es auch nicht als Bereicherung empfinden, gehen zu können", sagt sie mit großer Überzeugung. Durch die Hilfsbereitschaft von Kommilitonen und Dozenten konnte sie ihr Studium meistern. "Man muss sich nur zu Wort melden und darf nicht verzagen", macht sie anderen Menschen mit Handicap Mut.
Peter Sauer
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