Mit einem Tigersprung an die Spitze

Die deutsch-estnische Verständigung funktionierte auf allen Ebenen: Rektorin Prof. Ursula Nelles überreichte ihrem Amtskollegen der Universität Tartu, Prof. Alar Karis, als Dank für die Einladung nach Estland eine WWU-Krawatte.
Foto: Universität Tartu
Rund 40 Minuten lang hatte Prof. Klaus Schubert über die Geschichte und über aktuelle Herausforderungen des deutschen Sozialstaats referiert, als die 21 Studierenden aufgerufen waren, den münsterschen Politikwissenschaftler mit Fragen zu löchern. Kein Problem für den Experten – aber es dauerte nur wenige Minuten, bis sich das wahre Interessensgebiet der jungen Damen und Herren herauskristallisierte: die deutsche Wiedervereinigung in all ihren Facetten. Während in Deutschland 20 Jahre danach allenfalls die wirtschaftliche Entwicklung in Ost und West von Zeit zu Zeit in den Blickpunkt rückt, spürte Klaus Schubert, wie dieses weltgeschichtliche Ereignis andernorts noch immer eine vorrangig emotionale Faszination ausstrahlt – wie beispielsweise an diesem Nachmittag im estnischen Tartu, 100 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
"Wir leiden genauso wie Sie unter einer chronischen Unterfinanzierung durch den Staat"
Während Klaus Schubert vehement seine These verteidigte, dass es seinerzeit keine echte Alternative für die vor allem in Ostdeutschland geforderte schnelle Wiedervereinigung gab, stellte Prof. Ernst Ribbat Goethes interkulturelle Balladen zur Diskussion. Prof. Wilhelm Schmitz berichtete parallel dazu über molekulare Veränderungen im Falle eines Herzinfarkts, Prof. Michael Hippler über die Regulierung der Photosynthese bei Algen: Die münsterschen Wissenschaftler standen jeweils einem ausgesprochen interessierten Publikum gegenüber.
Überhaupt stand ab dem 1. November die gesamte Woche an der Universität Tartu (UT) ganz im Zeichen der WWU. Zum mittlerweile 14. Mal hatten die Verantwortlichen der größten estnischen Hochschule eine ihrer weltweit 54 Partner-Universitäten als Gast der "Akademischen Woche" eingeladen – in diesem Jahr wurde Münster diese Ehre zuteil. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Universitäten Münster und Tartu nur wenige Monate nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erste, noch zarte Bande knüpften und beide Universitäten bereits 1994 ein offizielles Partnerschaftsabkommen abschlossen.
Die 14-köpfige Delegation mit Rektorin Prof. Ursula Nelles und Prorektorin Prof. Cornelia Denz an der Spitze spürte schnell, wie viel Gemeinsamkeiten die beiden Hochschulen und ehemaligen Hanse-Städte haben. Ähnlich wie die WWU in Münster bestimmt die 1632 vom schwedischen König Gustav II. gegründete UT das Stadtbild in Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands. Die 111 Universitätsgebäude sind über das Stadtgebiet verteilt, rund 20 Prozent der 100.000 Einwohner sind an einer der neun Fakultäten eingeschrieben. Auch die Universität Tartu ist mit rund 3500 Beschäftigten der mit Abstand größte Arbeitgeber in der Region.
"Und auch wir leiden genauso wie Sie", betonte Rektor Prof. Alar Karis im Gespräch mit Ursula Nelles, "unter einer chronischen Unterfinanzierung durch den Staat." Woraufhin die münstersche Rektorin spontan eine neue Form des Protests anregte – eine Art Flash-Mob aller europäischen Hochschul-Rektoren und -Präsidenten in Brüssel. Sein Lächeln verriet zwar eine gewisse Sympathie für diese Anregung, Alar Karis bat sich gleichwohl etwas Bedenkzeit aus.
Als eine Tartuer Kollegin während einer deutsch-estnischen Professoren-Diskussion Rektorin Ursula Nelles die Frage nach ihren drei drängendsten Wünschen beantwortete, pflichtete Alar Karis ihr dagegen ohne Zögern bei: eine ausreichende Finanzierung der Universitäten, eine Lockerung der Vorschriften für die Besoldung von Professoren und die Zusage der Politik, den Hochschulen grundsätzlich noch mehr Freiheiten zu geben. "Eines möchte ich, ebenfalls an die Politik adressiert, hinzufügen", sagte Alar Karis. "Haltet Eure Versprechen."
Die deutsch-estnische Verständigung funktioniert aber nicht nur auf oberster Ebene. Die Universität Tartu hat sich längst zu einem wichtigen Partner entwickelt, wovon sowohl viele Wissenschaftler als auch Studierende profitieren. Ob Wirtschaftsinformatiker, Theologen, Mediziner oder Historiker: Zwischen zahlreichen Instituten gibt es seit fast 20 Jahren einen intensiven Austausch. Tartuer Wissenschaftler und Studierende sind oft zu Gast in Münster. Aber auch münstersche Studenten können mit Hilfe des International Office der WWU und auf Basis eines Stipendiums ein oder zwei Semester in Estland studieren. In einem mit rund 1,3 Millionen Einwohnern zwar sehr kleinen, aber gleichermaßen faszinierenden und reizvollen Land.
Seit 1991 ist die nördlichste der drei Ostsee-Republiken wieder unabhängig, seit 2004 ist Estland Mitglied der Nato und der EU. Binnen weniger Jahre hat sich Estland von einer grauen Sowjet-Republik zu einem modernen Staat entwickelt, in dem es eine weitere, eine Revolution der besonderen Art gegeben hat – eine technologische Revolution, der die Esten Mitte der 90er-Jahre den Namen "Tigersprung" gaben.
Fast 100 Prozent der Esten haben ein Mobiltelefon, mit ihrem Chipkarten-Personalausweis zahlen sie ihre Bus- und Bahnfahrten, weisen sich damit bei Wahlen aus und erfragen beim Finanzamt ihre Steuerschulden. Das öffentliche Leben ist mit dem Cyberspace weitgehend verschmolzen: Alle estnischen Schulen sind mit dem Internet verbunden, die wenigen Bewohner ohne eigenen Computer nutzen einen der über 700 öffentlichen Internetpunkte. Darüber hinaus kann man mit dem Laptop an mehr als 1000 Orten eine kostenlose und kabellose LAN-Verbindung nutzen. Davon machten auch die meisten der WWU-Professorinnen und -Professoren reichlich Gebrauch: Der elektronische Kontakt mit der münsterschen Heimat war von jedem Hotelzimmer aus gesichert.
Es gibt also durchaus die eine oder andere Entwicklung, die sich zu kopieren lohnen würde. Dass auch Deutschland zu einem Tigersprung ansetzen werde, konnte Ursula Nelles den Gastgebern selbstverständlich nicht versprechen. Die Tartuer Idee einer Akademischen Woche mit einer ausländischen Partneruniversität als Gast will sie dagegen möglichst schnell in Münster zur Diskussion stellen: Die Universität Tartu hätte in diesem Fall wohl allerbeste Chancen, der erste Gast zu sein.
Norbert Robers