Chefin für einen Tag

Nur zu Besuch war Rektorin Prof. Dr. Ursula Nelles in ihrem eigenen Büro, das sie für einen Tag der Schülerin Anna Haarmann überließ.
Foto: Peter Grewer
Am frühen Nachmittag war es endgültig Zeit, frische Luft zu schnappen und sich die Beine zu vertreten. Zehn Termine hatte Anna Haarmann da bereits absolviert – gefühlt waren es allerdings weit mehr. Und man sah es ihr an. Hochkonzentriert, immer um ein Lächeln bemüht, aber auch sehr angespannt. Entsprechend dankbar nahm die 18-jährige Gymnasiastin den Hinweis von Sabine Otto und Claudia Erpenstein wahr, als die beiden Rektorats-Sekretärinnen gegen 16 Uhr entschieden: "Sie machen eine Pause – und zwar jetzt."
Es gibt Tage, da fällt es auch einer regulären Chefin oder einem "echten" Chef schwer, immerzu Haltung zu bewahren und bis zur letzten Arbeitsminute auf der Höhe zu sein. Wie ungleich schwerer muss es demnach einer Jung-Erwachsenen fallen, diese Aufgabe zu übernehmen – noch dazu ständig beobachtet von einer stattlichen Medien-Meute? Trotzdem: Anna Haarmann wusste, was sie tat. Und sie erledigte ihren Job mit Bravour. Auf Initiative von Lehrerin Piroschka Haenlein hatte sich der Grundkurs Sozialwissenschaften der Marienschule Münster, einem bischöflichen Mädchengymnasium, dazu entschlossen, an der Aktion "Chef für 1 Tag" teilzunehmen. Acht bundesdeutsche Unternehmen, darunter die Uni Münster als einzige deutsche Hochschule, folgten dem Aufruf des Fach-Magazins „Focus Money“, der Stiftung Lesen und der Unternehmensberatung Odgers und Berndtson, für 24 Stunden den Chefsessel freizugeben.
Aber warum eigentlich Anna Haarmann und nicht eine ihrer 17 Klassen-Konkurrentinnen? Neben der großen Portion Zielstrebigkeit und Selbstsicherheit, die die 18-Jährige ausstrahlte, war es vor allem der Lebenslauf, der die fachkundige Jury überzeugte. Übungsleiterin im DJK SC Nienberge, Betreuerin in der St. Sebastian-Gemeinde Nienberge, Beisitzerin der DJK Sportjugend, Mitorganisatorin des Musikevents "Rock am Turm", Stufen- und Kurssprecherin: Anna Haarmann engagiert sich auf vielfältige Art und Weise, sie übernimmt gerne Verantwortung. Aber ohne sich in den Vordergrund zu spielen – bei ihren Klassenkameradinnen ist sie sehr beliebt.
Um acht Uhr morgens wartet Rektorin Prof. Ursula Nelles bereits in ihrem penibel aufgeräumten Dienstzimmer auf ihre Ein-Tages-Nachfolgerin, überreicht ihr den Zimmerschlüssel und verkündet: "Ich gehe jetzt shoppen." Man sieht Anna Haarmann in diesem Moment an, was sie denkt: "Das würde ich jetzt auch wesentlich lieber machen." Zu spät.
"Ich habe nur Gutes von Ihnen gehört."
Um acht Uhr steht die Tagesbesprechung an, die Morgen-Lage. Keine Auffälligkeiten für die Profis am Tisch, für Anna Haarmann ist jede Bemerkung eine Neuigkeit. Schließlich steht sie unmittelbar vor der ersten Rektoratssitzung ihres Lebens, die sie noch dazu leiten muss. Tapfer begrüßt sie "ihre" Prorektoren, den Kanzler und die Riege der Dezernenten. Und siehe da: Anna Haarmann sorgt für eine straffe Abarbeitung der 13 Punkte umfassenden Tagesordnung. Der Lohn: Applaus für die Jung-Rektorin nach der knapp zweistündigen Sitzung.
Eine Rücksprache mit der Leiterin des International Office, die Ernennung der Prorektoren, mehrere Telefonate und unzählige Fragen – Anna Haarmann ist kaum eine Minute Muße vergönnt. Um 18 Uhr dann der letzte Termin: sie soll eine Gruppe ausländischer Studierender begrüßen – das glaubt sie. Tatsächlich warten ihre Eltern, mehrere Lehrer und einige Mitschülerinnen im Café Couleur auf die zusehends ermattete Chefin. Jetzt strahlt sie, jetzt endlich fällt die Anspannung von ihr ab. "Ich habe nur Gutes von Ihnen gehört", lobt Ursula Nelles die Schülerin, die von "einem großartigen Tag; sehr anstrengend, aber ebenso abwechslungs- und lehrreich" spricht. Aber auch die Rektorin hat allen Grund, sich zu bedanken. Denn sie war keineswegs Shoppen gewesen, sondern hatte in relativer Ruhe Akten studiert und telefoniert – mit dem erfreulichen Ergebnis, dass sie sich den folgenden Sonntagnachmittag weitgehend frei nehmen konnte.
Norbert Robers