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„Was machst Du hier? Du gehörst hier nicht hin!“

Andreas Kemper engagiert sich für Arbeiterkinder

Kinder aus Arbeiterfamilien oder aus bildungsfernen Schichten sind nach wie vor an deutschen Hochschulen deutlich unterrepräsentiert. Selbst bei Stipendienprogrammen oder anderen Fördermaßnahmen fallen sie häufig durch den Rost.

Die Bildungsungleichheit beginnt aber nicht erst nach dem Abitur: Die Experten sind sich einig, dass der Grundstein für eine erfolgreiche Bildungskarriere schon im Kindergarten gelegt wird. Dort kann noch aufgeholt werden, was im Elternhaus versäumt wird.

Auch die frühe Entscheidung schon nach der vierten Klasse, wenn die Schüler selbst sich noch nicht entscheiden können, welche Schulform sie besuchen möchten, trägt zur systematischen, wenn auch nicht willentlichen Diskriminierung von Kindern aus bildungsfernen Schichten bei.

Andreas Kemper ist Referent im Allgemeinen Studierenden-Ausschuss (AStA) für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (FiKuS). Der 46-Jährige stammt selbst aus einem Arbeiterhaushalt: Seine Eltern waren Textilarbeiter in Nordhorn. Nach einer Unterbrechung seines Studiums in den 1990er Jahren promoviert er zurzeit im Fach Soziologie. Brigitte Nussbaum fragte nach den Bildungschancen von Kindern aus unteren Schichten

Herr Kemper, wie unterscheiden Sie Kinder aus Arbeiterfamilien, aus bildungsfernen Schichten und aus armen Haushalten?

Gar nicht. Wer sich dazu zählt, gehört zu uns.

Sie selbst kommen aus einem typischen Arbeiterhaushalt. Wie sah Ihre eigene Bildungskarriere aus?

Als ich klein war, hatten wir nur zwei Bücher: einen Erziehungsratgeber und die Bibel. Ein Freund, dessen Vater Meister war und schon ein anderes Bildungsniveau hatte, hat mich mit seiner Mutter mit in die Stadtbücherei gebommen – das war die Entdeckung einer neuen, ganz fremden Welt! Aber auch wenn meine Eltern mir inhaltlich nie helfen konnten, weil ich ihnen schon früh intellektuell überlegen war, haben sie mich doch immer unterstützt. Einerseits waren sie stolz, dass ich studiert habe, andererseits wäre es meiner Mutter lieber gewesen, wenn ich eine sichere Banklehre gemacht hätte.

Sind Sie glatt durch die höhere Schule gekommen?

Ich habe in der Hauptschule angefangen und gleich in der fünften Klasse keine Hausarbeiten mehr gemacht. Dann flatterte ein Brief ins Haus: einerseits eine Mahnung, andererseits die Aufforderung, mich auf die Realschule zu schicken, weil ich in der Hauptschule unterfordert war. Dort habe ich dann das erste Mal gemerkt, dass es Schüler gab, die schlechter als die Hauptschüler waren, aber trotzdem auf die Realschule gingen. Das hat mich schon damals gewundert. Als ich aufs Gymnasium ging, war das wieder so.

Gibt es noch Vorbehalte in den unteren Schichten, wenn die Kinder aufsteigen?

Das hat sich geändert. Die sicheren Arbeitsplätze sind weggebrochen. Durch die PISA-Tests haben auch die Eltern in den unteren Schichten erkannt, dass ihre Kinder eine gute Bildung brauchen. Aber durch diese entfernen sie sich von ihren Eltern. Akademikerkinder dagegen nähern sich ihren Eltern an, wenn sie studieren. In den USA nennt man Aufsteiger aus Arbeiterfamilien "Straddler" – das kommt von "spreizen". Sie stehen mit einem Bein in der Arbeiter- und mit dem anderen in der Akademikerkultur.

Das hört sich an, als würden sie nirgendwo so richtig dazu gehören?

Der Soziologe Pierre Bourdieu spricht vom Habitus, der inkorporiert ist. Das bedeutet, ein bestimmtes souveränes Auftreten erlerne ich schon von der Geburt an und kann es in späteren Lebensjahren nicht mehr erwerben. Man kann vielleicht versuchen, es zu trainieren, aber wenn man in Situationen kommt, die einen verunsichern, wird der Körper einen verraten. Als ich das erste Mal bei einem Professor zuhause war, habe ich ein Glas Wasser umgeworfen, weil ich so unsicher war. Es gibt nach wie vor Situationen, in denen ich mir denke: "Was machst Du hier? Du gehörst hier nicht hin!" Man kommt sich vor wie ein Hochstapler.

Denken das auch andere von Arbeiterkindern?

Es gibt zahlreiche Untersuchungen und Studien dazu. Das fängt schon in der Kita an. Kinder bildungsferner Herkunft gehen seltener in die Kita, dabei gehört die Spanne vor dem dritten Lebensjahr zur wichtigsten Zeit. Wenn hier nicht in der Kinderbetreuung ausgeglichen wird, was im Elternhaus eventuell fehlt, fehlt das ein Leben lang. In der Schule setzt es sich fort: Kinder aus unteren Schichten müssen im Schnitt eine Note besser sein, um dieselbe Bildungsempfehlung wie Kinder aus oberen Schichten zu erhalten. Die Eltern aus unteren Schichten übernehmen die Empfehlungen der Lehrer, die aus oberen wollen ihre Kinder immer im Gymnasium sehen.

Vielleicht ist das naiv gedacht, aber in den Hochschulen endet dann die Diskriminierung?

Nein, unbewusst gibt es auch hier Diskriminierung. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen: Nur fünf Prozent aller Stipendien der Deutschen Studienstiftung gehen an Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien, dabei brauchen die sie doch besonders dringend. Und unter den studentischen Hilfskräften gibt es kaum Kinder aus Arbeiterfamilien, wie eine bundesweite Untersuchung der Universität Konstanz gezeigt hat.

Woran liegt das?

Professoren wollen gerne Mitarbeiter, die ihnen ähnlich sind, und sie sind nun einmal Akademiker. Später geht es weiter. In den DAX-notierten Unternehmen stammen die Führungskräfte alle aus einem Millieu mit sehr hohem sozialem Niveau. Es war neulich schon eine Sensation, als erstmals eine Frau in einen Aufsichtsrat gewählt wurde.

Frauen, Arbeiterkinder und ...?

Menschen mit Migrationshintergrund werden nach wie vor an bestimmten Stellen benachteiligt.

Was bietet denn Ihr Referat an Unterstützung?

Zu uns kommen Menschen, die durch die normalen Raster fallen. Wir beraten sie und einmal im Monat können sie sich bei einem Stammtisch austauschen. Außerdem haben wir vor kurzem das Magazin "The Dishwasher" ins Leben gerufen, mit dem wir finanziell und kulturell benachteiligten Studierenden eine Plattform bieten.