Andere Länder, andere Sitten

Rasch eingebunden ins Team wurde Kristina Spaniol (rechts), die froh ist, dass sie ihr Praktisches Jahr in Indien absolviert hat.
Fotos (2): privat
Kristina Spaniol erinnert sich jeden Tag an Indien. Jeden Morgen, wenn die Medizinstudentin bei Wind und Wetter zur Uniklinik in Münster radelt, denkt sie daran, wie sie noch vor ein paar Wochen im strahlenden Sonnenschein ins Krankenhaus gehuscht ist. Nur ein paar Meter waren es, die sie von ihrem kleinen Zimmer im Wohnheim bis zur Klinik im indischen Bangalore zurücklegen musste. "Das war ein ganz anderer Start in den Tag", sagt die 25-Jährige und lächelt. Palmen, Flip-Flops, blauer Himmel und 25 Grad. Vier Monate lang hat Kristina Spaniol über 7500 Kilometer von Münster entfernt auf der chirurgischen Station des St. John’s Hospitals im Süden Indiens gearbeitet.
"Ich wollte immer schon mal was anderes machen. Und da bot sich das Praktische Jahr einfach an", sagt die angehende Augenärztin. Ohne große Vorstellungen stieg sie Anfang Dezember in den Flieger. "In diesem Moment habe ich einmal kurz gedacht, krass, was machst du hier eigentlich?" Doch schon bei der Ankunft seien alle Zweifel vergessen gewesen. Überwältigt von den Eindrücken eines Landes, in dem der Kontrast zwischen Arm und Reich in jeder Situation und an jedem Ort deutlich wird, ließ sie sich auf das Abenteuer ein.
"Zunächst war ich sogar sehr überrascht, denn sowohl in der Stadt als auch in der Klinik schienen viele Dinge westlichem Standard zu entsprechen." Erst der zweite Blick und ein paar Tage in der Chirurgie brachten die ersten Kuriositäten zum Vorschein. "Da gab es so viel Ungewöhnliches: angefangen von alten rostigen Teekesseln, in denen Wasser für die Operationen aufgekocht wurde, bis zu Ständern voller blutiger Tücher, die für die nächste OP gewaschen wurden." Dinge, die im Klinikalltag in Münster völlig unmöglich wären. In Indien sind sie selbstverständlich.
Kristina Spaniol hat schnell erfahren, was im Land der Extreme zählt: "Im Krankenhaus ist es in erster Linie Geld." Sie kann sich noch gut an Situationen erinnern, in denen Untersuchungen oder Operationen nicht durchgeführt wurden, weil den Patienten die finanziellen Möglichkeiten fehlten. "Es ist für unser Empfinden einfach unvorstellbar. Zu wissen, dass man jemandem helfen könnte, aber es nicht darf." Immer wieder sei sie beeindruckt gewesen, wie sehr sich die Ärzte daher auf ihre Sinne und ihr Gefühl verlassen haben. "Es ist oft das Einzige, womit sie diesen Menschen helfen können."
Nur ein Blick auf die Krankenhausstationen habe gereicht, um zu sehen, wie unterschiedlichste Welten aufeinander prallen: "In den oberen Etagen gibt es vollausgestatte klimatisierte Einzelzimmer und ein paar Stockwerke darunter liegen zehn Patienten in einem Raum, der nicht viel mehr als vier Wände bietet." "General Ward" nenne sich diese unterste von insgesamt vier "Versorgungsklassen", bei der die Angehörigen sich um das Essen und die Verpflegung des Kranken kümmern müssen. "Besonders schlimm war natürlich der Gestank in den Zimmern. Es war eine Mischung aus Exkrementen und Schweiß. Ich kann es gar nicht beschreiben, aber es roch einfach nach Krankheit", erzählt Kristina Spaniol.

Verschnaufpause im Ärztezimmer: Kristina Krümpelmann (l.) mit Mann und Kollegin
Ganz so anders war die Welt nicht, die Medizinstudentin Kristina Krümpelmann in England erlebte. Im vergangenen Sommer brach sie zusammen mit ihrem Mann für vier Monate nach Gillingham auf, rund 60 Kilometer östlich von London. „Ich habe mich in meiner PJ-Zeit bewusst für ein Land entschieden, das nicht so viele Unterschiede zu Deutschland aufweist. Ich wollte gerne Eindrücke sammeln, die ich später in der deutschen Praxis umsetzen kann“, erzählt die 24-Jährige aus Münster.
Doch auch "nur" rund 600 Kilometer von der Heimat entfernt spürte Kristina Krümpelmann schnell, dass England nicht Deutschland ist. Sie brauchte einige Zeit, bis sie sich an die höflich distanzierte Art ihrer englischen Kollegen gewöhnte. "Es gab öfter Situationen, wo ich nicht genau wusste, ob ich eine Sache jetzt richtig gemacht habe oder nicht, denn ein direktes Feedback gibt es häufig nicht." Für die 24-Jährige mit ihrer offenen und direkten Art war das zunächst ungewöhnlich: „Es ist ein ganz anderer Umgang mit Kritik, der die unterschiedlichen Mentalitäten schnell deutlich macht.“
"Ich habe in dieser Zeit so viel über mich selbst gelernt."
Schon kurz nach ihrer Ankunft war die angehende Pathologin überrascht, wie schnell sie in die tägliche Arbeit des "Medway Maritime Hospitals" in Gillingham eingebunden wurde. "Ich durfte viel machen, wurde ganz selbstverständlich mit in die OPs eingeteilt und in ein Ärzteteam aufgenommen." Anders als in Deutschland seien es in England feste Teams, die zehn bis 15 Patienten auf verschiedenen Stationen betreuen. "Das ist natürlich gerade, wenn man neu ist, ein Vorteil. Der Kontakt zu den Kollegen ist enger, und es ist einfacher, sich auf die fachliche Seite einzulassen."
Zwischendurch gebe es zudem immer wieder Zeit, sich der Lehre zu widmen. "Das hat mir sehr gut gefallen. Es gibt auf dem Areal des Krankenhauses eine große Bibliothek und es war selbstverständlich, dass Ärzte manche Sachen noch einmal nachschlagen konnten." In Deutschland vermisst die Medizinstudentin das. "Natürlich geht die tägliche Arbeit vor, aber manchmal kommt es mir so vor, als ob die Lehre darin fast untergeht."
Es gibt einige Annehmlichkeiten, die die geborene Rheinenserin in England zu schätzen gelernt hat. "Beispielsweise die Privatsphäre, die die Vorhänge um die Betten der Patienten in Mehrbettzimmern bieten", sagt Kristina Krümpelmann und schmunzelt. Was auf den ersten Blick ein bisschen komisch wirke, habe durchaus Sinn. "Es schafft einen intimeren Raum zwischen Arzt und Patient – auch wenn es nur ein visueller Schutz ist." Zurück in Deutschland musste sie sich erst wieder daran gewöhnen, dass alle Zimmernachbarn an der Visite teilnehmen. "Was ich außerdem überhaupt nicht vermisste habe, war mein Kittel", sagt die 24-Jährige. In England sei es selbstverständlich, dass die Ärzte auf den Stationen in Alltagskleidung arbeiten. "Allerdings in schicker Kleidung. Es würde niemand auf die Idee kommen, mit einer Jeans auf die Station zu gehen." Noch heute legt sie ihren Kittel ab, sobald sie im Ärztezimmer ist.
Sowohl in fachlicher als auch in menschlicher Beziehung haben sich Kristina Krümpelmanns Erwartungen erfüllt. "Sogar übertroffen, würde ich sagen." Auch außerhalb der Arbeitszeit verbrachte sie viel Zeit mit den Kollegen, ging mit ihnen klettern oder feiern. "Es gibt sogar ein eigenen 'Social Club', also einen Pub, der zum Krankenhaus dazugehört. Dort haben wir viele Abende zusammen verbracht."
So unterschiedlich die Erfahrungen von Kristina Spaniol und Kristina Krümpelmann aus Münster auch sind, die beiden Studentinnen sind sich einig: Der Auslandsaufenthalt während des Praktischen Jahres war eine wertvolle Erfahrung, die sie auf keinen Fall missen möchten. "Ich habe in dieser Zeit so viel über mich selbst gelernt", resümiert Kristina Spaniol, die ihren Aufenthalt in Indien schließlich um zwei Monate verlängerte. Denn egal, wie unterschiedlich die Ansätze der beiden Frauen auch waren, ihre Erwartungen haben sich erfüllt. "Erst in der Fremde, egal wo, ist es möglich, die heimischen Dinge zu beurteilen und schätzen zu lernen", sagt Kristina Krümpelmann.
Beate Vieler