Was zählt ein Menschenleben?
Was zählt ein Menschenleben? Wem wird geholfen, wenn man nicht allen helfen kann? Darf man Menschen um ihres Besten willen "vor sich selbst" schützen? Welche Begründungen gibt es dafür? Können menschliches "Glück" und "Wohlergehen" oder "Natürlichkeit" als Basis für moralische Normen dienen? Diese und ähnliche Fragen untersucht die neue DFG-Kollegforschergruppe "Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik", die am 27. April um 20 Uhr in der Aula des Schlosses feierlich eröffnet wird.
Mithilfe eines fiktiven Beispiels macht Dr. Johann S. Ach, Koordinator des Projekts, verständlich, womit sich die Wissenschaftler beschäftigen: "Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten bei der Bahn. Ein Zug fährt ein. Sie können die Weichen nur so stellen, dass der Zug entweder die linke oder rechte Abzweigung nimmt. Links würde er einen und rechts fünf Gleisarbeiter überfahren. Was tun Sie?" Die theoretische Diskussion über ethische Fragen wie diese und die Suche nach der Normenbegründung stehen im Mittelpunkt der Arbeit des Kollegs. In diesem konkreten Fall legen konsequentialistische Theorien nahe, die Weichen so zu stellen, dass nur ein Gleisarbeiter getötet wird, weil fünf Tote die größere Tragödie wären. Der gegensätzliche Ansatz fragt dagegen: "Do numbers count?": Zählt ein Menschenleben wirklich weniger als fünf? Kann man hier einfach addieren?
Um es auf die Arbeit des gesamten Kollegs zu übertragen: Durch den rasanten Fortschritt der modernen Lebenswissenschaften und der medizinischen Forschung wachsen die Zahl und das "Gewicht" der Handlungsoptionen ständig weiter an. Wir können und müssen deshalb auch immer mehr entscheiden. Für den begründeten Umgang etwa mit den knapper werdenden medizinischen Ressourcen, für die Forschung am Menschen, die Humangenetik und die Intensivmedizin stellt der herkömmliche Kanon moralischer Normen und Werte aber oft keine hinreichenden Bewertungskriterien bereit. "Die Forschergruppe will durch die Grundlagenforschung einen Beitrag zur Bewältigung solcher Orientierungsdefizite leisten", erklärt Johann S. Ach. "Dass die DFG dieses Projekt bewilligt hat, ist ein ganz großer Erfolg für die WWU. In Deutschland gibt es in diesem Jahr nur ein weiteres Projekt mit dieser Tragweite", freut sich der wissenschaftliche Koordinator. Über acht Millionen Euro Förderung über eine Laufzeit von acht Jahren sind für ein geisteswissenschaftliches Projekt eine mehr als respektable Summe.
Die so genannten Leuchtturmprojekte der DFG zeichnen sich durch die Stärkung bereits vorhandener Strukturen aus, das betreffende Themengebiet ist vor Ort schon durch Personen repräsentiert, die eine hohe nationale und internationale Sichtbarkeit und Prägewirkung haben. Die Förderung durch die DFG ermöglicht vor allem eine zeitlich sehr intensive Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsobjekt. Am Forscherkolleg arbeiten Philosophen, Politikwissenschaftler und Juristen zusammen. "Außerdem spielt das Fellow-Programm für international ausgewiesene Forscher aus dem In- und Ausland eine bedeutende Rolle", erklärt Johann S. Ach. Bis zu sechs Monate bleiben die Gastwissenschaftler zum intensiven Austausch an der Universität Münster.
Hanna Dieckmann