„Widerstand bedeutete den Tod“

Das Grauen des Kriegs erlebte Rolf Hegemann an der Front.
Foto: privat
"Damit haben wir nach dem Krieg den Schutt abtransportiert." Dr. Rolf Hegemann blickt nachdenklich auf die alte Lore in Münsters Stadtmuseum. Die Feldeisenbahn, zu der das Ausstellungsstück gehörte, hat er 1946 als Medizinstudent gemeinsam mit Kommilitonen selbst vor dem Schloss verlegt. Bei einem Luftangriff im März 1945 war das historische Gebäude bis auf die Außenmauern und die Schlosskapelle zerstört worden – wie zuvor große Teile der Innenstadt. Nach dem Krieg hieß es daher für Arbeiter wie für Akademiker: anpacken, aufräumen, aufbauen. Die weiblichen Studenten waren zum "Steine klopfen" eingeteilt: Von den noch brauchbaren Ziegeln schlugen sie mit einer Hacke die Mörtelreste ab und stapelten sie vor den Ruinen auf. Damit wurde das Schloss wieder aufgebaut, fortan Hauptsitz der Universität.
Bevor der gebürtige Münsteraner 1949 seine Laufbahn als Mediziner beginnen konnte, war er wie die meisten Menschen seiner Generation zum Spielball der Geschichte geworden. Nach bestandener Abiturprüfung 1938 fängt er in seiner Heimatstadt ein Jurastudium an, geht nach Berlin und später für ein halbes Jahr nach Rom. "Die Zeit in Italien war eine der schönsten in meinem Leben. Die Universität habe ich allerdings nur selten von innen gesehen", gibt der agile alte Herr mit einem Schmunzeln zu. Doch das unbeschwerte Leben währt nicht lang: Nach Kriegsausbruch wird der Student zunächst zum Arbeitsdienst und später zur Wehrmacht eingezogen. Als Soldat erlebt er das Grauen der Ostfront vor Moskau und wird später an den Fluss Dnjepr in die östliche Ukraine versetzt. Zweimal bringt man ihn verwundet in das deutsche Lazarett bei Dnipropetrowsk.

Musealen Wert haben inzwischen die Erinnerungen des 89-Jährigen.
Foto: Stadtmuseum MS
Im Herbst 1943 ereignet sich ein kleines Wunder: Soldaten, die noch keine Offiziere sind – Hegemann ist Feldwebel – und nachweisen können, dass sie Medizin studieren wollen, dürfen zurück nach Deutschland. Hegemann hat Glück: Bei seinem letzten Heimaturlaub hat er sich in Jura exmatrikuliert und stattdessen für Medizin eingeschrieben. Doch der Weg von der Ostfront nach Münster ist weit. Schließlich kann er den Piloten einer Nachschubmaschine, einer JU 52, dazu überreden, dass er ihn auf dem Rückweg von Odessa nach Deutschland mitnimmt.
In Münster gehört der junge Soldat zur rund 150 Mann starken Studentenkompanie der Medizinstudenten. Der Verband ist Teil der Wehrmacht und kann somit jederzeit als Sanitätstrupp an einen der Kriegsschauplätze versetzt werden. Es ist ein Studium auf Abruf und im Schnellverfahren, denn seit Kriegsbeginn ist das Studienjahr in Trimester eingeteilt.
Ein besonders beklemmender Moment: der 20. Juli 1944. Der Kompanieführer teilt der im Hof des Fürstenberghauses aufgestellten Studententruppe mit, dass ein Attentat ist auf Hitler verübt worden, der "Führer" aber gottlob "wohlauf" sei. "Irgend jemand hinter mir murmelt so etwas wie 'Ach, hätte es doch geklappt.'", berichtet Hegemann. "Spätere Generationen haben uns vorgeworfen, wir hätten etwas gegen die Nazis tun sollen. Aber jeder von uns wusste genau, dass er dies mit seinem Leben würde bezahlen müssen." Nur wenige Monate zuvor war in Berlin-Tegel ein Medizinstudent aus Münster, Heinz Bello, wegen "Wehrkraftzersetzung" hingerichtet worden. Eine Luftschutzübung im Jahr 1943 hatte der überzeugte Katholik mit den Worten kommentiert: "Die Laternenpfähle Münsters werden nicht ausreichen, um die Nazis und die Kommissköpfe nach dem Krieg daran aufzuhängen." Ein Vorgesetzter hatte ihn daraufhin denunziert.
Im Januar 1945 wird Hegemann nach bestandenem Vorphysikum zu einem Offizierslehrgang nach Wischau in die Slowakei abkommandiert. In den Wirren der letzten Kriegstage kehrt er in den Westen zurück. In Flensburg nehmen ihn die Briten gefangen, lassen ihn aber wieder frei, als er darum bittet, sein Studium fortsetzen zu können – Mediziner werden im zerstörten Deutschland dringend benötigt. Auf einem Kohlenzug sitzend fährt er Anfang Oktober 1945 nach Göttingen, wo die Medizinische Fakultät, anders als in Münster, ihren Lehrbetrieb schon wieder aufgenommen hat. Im Semester darauf wechselt er nach Westfalen.
Die ersten Nachkriegswinter sind hart. Der Bauch ist meist leer, man friert, studiert wird trotzdem. Hegemann: "Wir haben Holzstücke aus den Trümmern gesammelt und verfeuert. Das damals übliche Hörergeld nahmen die Professoren am liebsten in Form von Naturalien entgegen – als Kohlen." Lehrbücher gibt es nicht. Die Skripte der Professoren werden abgetippt und per Matritze vervielfältigt.
Der größte Besitz eines Studenten ist das Fahrrad. "Wer damals eines besaß, war schon ein vornehmer Mensch", erinnert sich der Münsteraner. Jeden Tag fährt er damit von seinem Elternhaus am Cheruskerring zum Altklinikum. Fahrräder sind auch damals schon begehrtes Diebesgut. Doch die Fakultätsverwaltung hat vorgesorgt und zwischen Innerer Medizin und HNO-Klinik die vermutlich erste bewachte Radstation in Münsters Stadtgeschichte eingerichtet.
Seiner Alma Mater, der WWU, fühlt sich Hegemann noch immer verbunden: Bei "MedAlum", dem neuen Ehemaligen-Verein der Medizinischen Fakultät, gehörte er gleich zu den ersten Mitgliedern.
Petra Conradi