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Zeitreise im Zelt

Ur- und Frühgeschichtler graben Megalithgräber aus

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Mit äußerster Sorgfalt legt Dr. Kerstin Schierhold die Funde in den Megalithgräbern auf einem Feld in Schmerlecke frei.

  Fotos (3): Peter Grewer

Der Wind pfeift über das Rübenfeld nahe der kleinen Ortschaft Schmerlecke bei Erwitte im Kreis Soest. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen – ein ganz normaler Tag scheint zu beginnen. Aber etwas hier ist anders. Hinter einem Hügel kommen zwei große, weiße Zelte in Sicht, die aus der grünen Landschaft herausstechen und mitten in den Rüben aufgebaut sind. Sie stehen dort als Witterungsschutz; unter ihnen dreht Dr. Kerstin Schierhold von der Abteilung für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie die Zeit zurück. Drei Megalithgräber und vor allem ihr Inhalt, angelegt in der Jungsteinzeit, wurden auf dem Feld in Schmerlecke entdeckt und sind nun ein sensibler Forschungsgegenstand.

"Die Gräber wurden 1880 das erste Mal aufgedeckt, aber kaum dokumentiert"

Eines der drei Gräber aus dem von 3500 bis 2800 vor Christus dauernden Abschnitt des Spätneolithikums war bereits 1880 zum ersten Mal aufgedeckt worden. "Diese Entdeckung wurde damals aber kaum dokumentiert und die Funde nicht fachgerecht behandelt", erklärt Schierhold, die für das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt arbeitet. Es soll Aufschluss geben über Fragen nach der Grabarchitektur und den Beigaben- und Bestattungsriten im Spätneolithikum. Außerdem werden Erkenntnisse über das Siedlungsverhalten der in den Gräbern bestatteten Menschen erhofft. Wie ernährten sich die Menschen damals? Wo wohnten sie? Bestanden Beziehungen zwischen den einzelnen Siedlungen? Beantworten kann Schierhold diese Fragen noch nicht, da sie erst am Beginn der Arbeit steht.

In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte nach 1880 ein zweites Grab entdeckt werden: "Die Bauern sind beim Pflügen immer wieder an den Wandsteinen hängen geblieben und so aufmerksam geworden", berichtet Schierhold. "Die genaue Lage der beiden Kollektivgräber im Gelände war jedoch lange nicht klar, deshalb haben wir 2006 mit geophysikalischen Prospektionen begonnen", schildert die Wissenschaftlerin die Anfänge ihrer Arbeit in Schmerlecke, einem beschaulichen Dörfchen in der Soester Börde, die sich zwischen Sauer- und Münsterland erstreckt. Dabei konnte neben der Auffindung der beiden bekannten schließlich eine dritte, bisher unbekannte Anlage lokalisiert werden. Dieses Grab ist bereits weitgehend zerstört, wird jedoch im Zuge des DFG-Projekts neben dem Grab aus den 1950er Jahren ebenfalls ausgegraben.

"Wir sind erstaunt, wie gut die menschlichen Knochenfunde noch erhalten sind", sagt die 32-Jährige. Das liege unter anderem an den Megalithen aus Kalkstein, die sich positiv auf die Haltbarkeit der Knochen auswirkten. "Besonders interessant ist, dass die Kalksteinplatten aus größerer Entfernung extra für den Bau der Gräber antransportiert wurden", so Schierhold.
Von dem holprigen Landweg führt nur ein schmaler Trampelpfad durch das Rübenfeld zu der Grabungsstätte. Betritt man die Zeltkonstruktion, taucht man förmlich ein in eine Welt, die Jahrtausende zurückliegt. Nur wenige Minuten im dämmrigen Licht und die Außenwelt ist vergessen. Was bleibt, ist der Anblick dreier rechteckig ausgehobener Gruben, die die Archäologen Schnitte nennen. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie große Sandkästen. Mit kindlichem Spielen hat das Geschehen jedoch nichts zu tun, vielmehr ist es anstrengende und vor allem höchst diffizile Arbeit, die Kerstin Schierhold und ihre zehn bis 15 Mitarbeiter, Studenten aus Münster und Bochum, hier durchführen.

Die 22-jährige Birte Reepen absolviert gerade für ihr Studium der Ur- und Frühgeschichte ein vierwöchiges Grabungs-Praktikum. Mit einem kleinen Holzstiel, den sie zum Grabungswerkzeug umfunktioniert hat, nähert sie sich einem Knochen, um vorsichtig die letzten Reste Erde abzukratzen. Die Gruppe ist erfinderisch, wenn es um den sorgsamen Umgang mit den Funden geht, da werden auch Schaschlikspieße und medizinische Mundspatel zweckentfremdet. Spitz wie ein Pfeil lugt das Knochenfragment aus der Erde; viele Knochen sind über die Jahrtausende zerbrochen. Größte Vorsicht ist geboten, denn die Mitarbeiter müssen sich vorsichtig Stück für Stück vorarbeiten, um die Funde nicht zu beschädigen und deren genaue Lage dokumentieren zu können.

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Wild durcheinander gewürfelt wurden die Knochen dieser jungsteinzeitlichen Menschen.

An einem Schreibtisch, der mitten im Feld und auf dem lehmigen Boden ein bisschen fehl am Platze wirkt, sitzt Schierhold und koordiniert das Vorgehen. "Wir arbeiten in einem Quadrantensystem", erklärt die Forscherin und meint damit die 50 mal 50 Zentimeter großen Flächen, in denen innerhalb eines Schnittes  Erde in fünf Zentimeter dicken Schichten abgetragen und auf Knochenfunde und Grabbeigaben untersucht wird. Um einen Gesamtplan zu erhalten, hält das Team die Ergebnisse per Fotogrammetrie fest. Das ist eine Messmethode, mithilfe derer man anhand von Fotografien und  genau eingemessenen Koordinaten und Höhen die räumliche Lage oder dreidimensionale Form eines Objektes bestimmen kann.

"Ich habe mir einen  Knochenatlas gekauft, damit ich auch weiß, was ich hier genau entdecke."

Mit kalten, fast steifen Händen putzt Birte einen Knochensplitter mit einer kleinen Bürste sauber. Für das Erfolgserlebnis eines spannenden Fundes sitzt sie manchmal stundenlang im Schneidersitz auf der kalten Erde: "Da tun einem am Abend schon mal die Knie oder der Rücken weh." Deshalb hat sich die Mannschaft um Projektleiterin Schierhold an der Ausgrabungsstelle fast häuslich eingerichtet. Viele der Mitarbeiter haben sich Isomatten oder dicke Decken mitgebracht, auf denen sie beim Graben bäuchlings liegen, eingewickelt in Schlafsäcke, um sich vor dem hartnäckigen Wind und der Kälte des Bodens zu schützen. "Im Sommer haben wir hier bei über vierzig Grad gearbeitet", erinnert sich Schierhold an die extremen Arbeitsbedingungen im Sommer, als die Grabungen begannen.

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Unter schwierigen Bedingungen arbeiten die Studierenden, die ein Grabungspraktikum absolvieren.

Mittlerweile haben die Studenten in den Schnitten eine Tiefe von 50 bis 60 Zentimetern erreicht. An vielen Stellen sind Schädeldecken, Arm- und Beinknochen zu erkennen, oft jedoch nicht mehr im anatomischen Verband. Deren Ausgrabung stellt eine besonders knifflige Aufgabe dar, da viele Skelette durcheinander geraten sind. "Schade ist, dass wir die Funde nicht immer direkt ganz ausgraben können", findet Hendrik Hirth, Student der Ur- und Frühgeschichte im fünften Semester. Schon bevor die Knochen entnommen werden, werden sie von Susan Klingner, der bearbeitenden Göttinger Anthropologin begutachtet, und dann später im Labor nochmals genauestens untersucht. Die Projektmitarbeiter möchten möglichst detaillierte Rückschlüsse über das Alter und Geschlecht sowie mögliche Krankheiten der Bestatteten ziehen können. Erkenntnisse über Verwandtschaften soll die DNA-Untersuchung der gefundenen menschlichen Ober- oder Unterkiefer bzw. Zähne ermöglichen.  "Regelmäßig wird bei uns 'Kieferalarm' ausgelöst", sagt die Projektleiterin schmunzelnd. Dann hat ein speziell eingewiesener Grabungshelfer in einem Ganzkörperanzug mit Mundschutz und Handschuhen eine halbe Stunde Zeit, um die Kiefer, die in der Erde entdeckt wurden, steril zu bergen.

Temperaturschwankungen können das DNA-Material schädigen, deshalb müssen wir uns beeilen, sobald wir die Kieferknochen freigelegt haben", erklärt Schierhold. Die geborgenen Kiefer werden in einer Kühltruhe zur Auswertung ins Labor gebracht.

"Das hier ist ein Oberschenkelknochen", erklärt Hendrik unterdessen stolz und zeigt auf das massive Gebein, das bis zur Hälfte aus dem Boden freigelegt ist. "Ich habe mir einen Knochenatlas gekauft, damit ich auch weiß, was ich hier genau entdecke. Das macht die Arbeit noch spannender", sagt der Student und streicht über die glatte Oberfläche eines Schädelknochens, Berührungsängste kennt er nicht. Unter dem Grabungszelt schmilzt die zeitliche Distanz zwischen Hendrik und den vor Tausenden von Jahren Begrabenen. Und mit jeder neuen Information, die die Forscher über das Leben und die Riten der Jungsteinzeitmenschen zutage fördern, wächst das Gefühl, verwandt zu sein.

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