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Wer immer strebend sich bemüht ...

Neue Historisch-Kritische Ausgabe des "Faust"

Als "deutscheste aller Tragödien" wurde der "Faust" einmal bezeichnet. Der Nationalcharakter der Deutschen schlechthin spiegele sich in dem Drama um den gelehrten Doktor. Privatdozent Dr. Karl Heinrich Hunke ist anderer Meinung: Nicht der Deutschen Ebenbild sei Heinrich Faust, sondern das des Besitzbürgers. Herausgearbeitet hat er dies in seiner historisch-kritischen Ausgabe der Tragödie von 1808.

Vier große Texte gilt es zu unterscheiden, wenn man vom "Faust" spricht. Da ist der "Urfaust", entstanden zwischen 1772 und 1775, "Faust. Ein Fragment", erschienen 1790, "Faust. Eine Tragödie", erschienen 1808, und der zweite Teil des "Faust", erschienen 1832. "Der Urfaust ist ein fragmentiertes bürgerliches Trauerspiel. Doch während dort Gut und Böse eindeutig verteilt und durch die Standesschranke gekennzeichnet waren, ersetzt nun der bürgerliche Libertin in Gestalt des Faust den lasterhaften Adeligen", erklärt Hucke. Das Fragment von 1790 verarbeitet dann schon die Erfahrungen der amerikanischen Revolution von 1776 und die der Französichen Revolution von 1789. Erstmals kommen Bürger an die Macht. "Vor diesem Hintergrund entwickelt Goethe die Fragestellung weiter: Was macht der Besitzbürger, wenn er an die Macht gekommen ist, was bestimmt dessen Handeln? Verfolgt er die Moral weiter, die er vertreten hat, so lange er noch keine Staatsämter hatte oder verwandelt er sich, wenn er Macht bekommt?" fragt Goethe und mit ihm auch Hucke.  

Die Tragödie von 1808 gibt darauf eine eindeutige Antwort: Der neue "Prolog im Himmel", die Wette zwischen Gott und Teufel, lässt sich, so Hucke als Rechtfertigungsideologie des Besitzbürgers verstehen. "Faust redet wie ein Weltbürger, doch er handelt wie ein Besitzbürger", erklärt Hucke. Während an Rhein und Ruhr die ersten Eisenwerke entstehen und sich die Volkswirtschaften grundlegend ändern, schafft Goethe einen Faust, dessen bürgerliches Denken rein auf den Fortschritt hin definiert ist. Während früher Besitz Grund und Boden bedeutete, entwickeln sich nun neue Märkte, denen die extensive Ausbeutung von Mensch und Natur zugrundeliegt. "Der Zweck heiligt jetzt die ökonomischen Mittel und das spiegelt sich im Faust wider", meint Hucke.

Die sogenannte "Wette" ist dafür ein zentraler Beleg. Sie sei, so Hucke, nicht als Wette im heutigen Sinn zu verstehen, sondern in einer früheren Bedeutung, wie sie im Grimmschen Wörterbuch zu finden ist. "Ich sehe die Wette als Selbstverpflichtung von Faust auf ein bestimmtes Prinzip hin. Und zwar auf das Prinzip des ständigen Weiterschreitens. Reflexion über das eigene Tun ist nur möglich, wenn man innehält!" so Hucke. Doch Faust, der beim Pakt mit dem Teufel sagt: "Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!", will bestraft werden, wenn er jemals die Zeit anhält, damit über sein Tun nachgedacht werden kann.

"Faust ist frei für instrumentelles Denken der schlimmsten Art."

"Faust weicht jedem moralischen Urteil aus. Und damit ist er frei für instrumentelles Denken der schlimmsten Art. Wachstum, unbedingtes Fortschreiten, wird als heilige Kuh dargestellt, ohne ein Nachdenken darüber, wie es zu rechtfertigen ist", erklärt der Germanist. Faust als Ausdruck des bürgerlichen Leistungsgedanken, der "immer strebend sich bemüht", findet sich wieder in den "Wanderjahren" von 1828. Dort gibt es eine Episode mit einer "gefährlichen Wette". Goethe, der immer wieder gefragt worden war, wie denn nun die Wette zwischen Gott und Teufel ausgegangen sei, spiegelt hier die Tragödie von 1808 wider, so Hucke. Die Textstelle "Da steh ich nun, ich, der eigentliche Verbrecher" bezieht er auf Faust, der nun nach 20 Jahren sein moralisches Urteil erhält.

Der von Hucke herausgegebene Text ist zum ersten Mal seit 200 Jahren wieder ein authentischer Text. Immer sei versucht worden, aus den verschiedenen Fassungen einen "glatten" Text zu formen, so, als habe der Geheimrat von Anfang gewusst, was er mit seinem "Faust" gewollt habe. "Dabei gibt es keinen idealen Text, den Goethe im Kopf hatte, als er anfing, sich mit der Faust-Legende auseinanderzusetzen. Goethe hat immer auf die Zeitläufte reagiert und dass muss man auch deutlich machen", erklärt Hucke.

Er hat nicht die Fassung aus der "vollständigen Ausgabe letzter Hand" von 1828 verwendet, sondern den Erstdruck von 1808, der wegen der Kriegswirren mit erheblichen Verzögerungen erschien. "Offensichtliche Fehler des Setzers sind korrigiert worden, ansonsten habe ich den Erstdruck zu Grunde gelegt, wie er bei Cotta im achten Band von Goethes Werken veröffentlicht wurde", erläutert der Germanist. Die Fassung "letzter Hand" sei dagegen – mit Goethes Einverständnis – redigiert worden. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Satzzeichen. Goethe setzte Kommata bei Sprechpausen und gliederte so den Text, Redaktor Karl Wilhelm Göttling verwendete 1828 die damals übliche Grammatik und Interpunktion. "Dadurch ist das historische Relief des Textes eingeebnet worden. Der authentische Text dagegen spiegelt die historische Signatur seiner Zeit."

bn

Goethe, Faust. Eine Tragödie [1808], Hrsg.: Karl Heinrich Hucke, Aschendorff Verlag, 878 Seiten