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Der Kloß im Hals

Prüfungsbelastung nimmt immer mehr zu

Wl 0904 Pruefung
Panik vor Prüfungen überfällt so manchen in diesen Zeiten. Zum Semesterende stehen besonders viele Klausuren an.

 Foto: allzweckjack/pc

Schweißnasse Hände, rasender Puls, Chaos im Kopf – wer kennt sie nicht, die Symptome der Prüfungsangst. Jeder Schüler, Auszubildende oder Student weiß um die unangenehmen Situationen, in denen jedes Wort zählt. So auch Lisa M., Studentin der Soziologie. Am Vorabend des Prüfungstages stellt sie den Wecker auf sechs Uhr. Vor einer Prüfung auch noch in Zeitnot zu kommen, sei eine absolute Horrorvorstellung, empfindet sie. Gut, wenn man Stressfaktoren eingrenzen kann. Schlecht, dass sich nicht alles so programmieren lässt wie der Wecker. Denn Lisa bekommt kein Auge zu. Das Ticken scheint um viertel nach eins, zwei Stunden nach dem Zubettgehen, immer lauter zu werden. Nichts hilft. Sich zahllose Male rumdrehen, mal wütend, mal verzweifelt ins Kissen boxen, Baldrian aus der Apotheke, in weiser Voraussicht am Bett platziert, noch mal zur Toilette schlurfen. Die kalten Fliesen machen Lisa nur noch wacher. Zurück ins Bett, das Bettlaken ist durchgeschwitzt und klebt unangenehm an der Haut. Nur noch vier Stunden, bis der Wecker klingelt. Noch drei, zwei – dieser verdammte Wecker. Beim kläglichen Versuch, am Morgen die Spuren der Erschöpfung, die dunklen Ringe unter den Augen, zu verstecken, verrutscht der Kajalstrich, weil die Hände zittern. Lisa spürt den Kloß im Hals, der ihr das Atmen schwer macht. "Jetzt reiß dich mal zusammen", raunt sie wütend ihrem Spiegelbild zu, bevor sie die Wohnung verlässt.

"Der Umfang dessen, was die Studierenden in den neuen Studiengängen leisten müssen, ist in etwa gleich geblieben. Neu ist, dass jede Note, jede Leistung ab dem ersten Tag des Studiums für das Abschlusszeugnis zählt", spürt Prof. Otto Klemm vom Institut für Landschaftsökologie  den steigenden Druck auf die Studierenden. Den Universitäts-Neulingen bliebe kaum mehr Zeit, sich im unbekannten Umfeld zu orientieren. "Es geht sofort zur Sache, da steigt natürlich auch die psychische Belastung", weiß der Vorsitzende der Senatskommission für Lehre, Studienreform und studentische Angelegenheiten. Andererseits verhindere der größere Druck, dass manche Studierende sich semesterlang auf die faule Haut legen, weil es erst kurz vor dem Abschluss ernst für sie werde. Klemm sieht noch einen weiteren Vorteil der neuen Studiengänge: "Nach drei Jahren können die Studierenden mit einem Bachelor-Abschluss ehrenvoll die Uni verlassen und müssen ihr Studium nicht abbrechen, wenn sie nicht über die volle Zeit durchhalten."

Wl 0904 Prof Otto KlemmGrößeren Druck spürt auch Prof. Otto Klemm als Prüfer.

    Fotos (2): Angelika Klauser

Nervosität sei immer ein Thema: "Oft zeigt sich die Anspannung erst nach den Prüfungen", weiß Klemm, dann brechen oftmals gerade diejenigen in Tränen aus, die ihre Prüfung erfolgreich gemeistert haben. "Wenn ein Studierender Prüfungsangst hat, dann wird das ganze Studium zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle", so der Klimatologe. Dass immer mehr Studierende in Prüfungen ein leeres Blatt abgeben, ist für Klemm eine neue Entwicklung. Er nennt das "Pokern auf gute Noten". Denn jede Zensur zählt für die Abschlussnote. Lässt sich ein Studierender absichtlich durchfallen, hat er die Möglichkeit, die Prüfung zu einem späteren Zeitpunkt zu wiederholen.

"Wie soll man für vier Prüfungen an einem Tag lernen?"

"Wir haben an manchen Tagen vier Prüfungen. Wie soll man für alle lernen? Dann fällt man lieber durch und bereitet sich auf den Nachschreibetermin vor", erklärt Nadine G..  "Einerseits verständlich, dass man sich seinen Schnitt nicht verderben will, andererseits ist das für die Dozenten nervig", weist Klemm auf die zusätzliche Arbeit hin. Allerdings ist ihm auch bewusst, dass in Anbetracht der Größe der Uni und der Heterogenität der Fachbereiche eine pauschale Beurteilung der Konsequenzen von Bologna unmöglich ist.

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Weitreichende Umstrukturierungen haben die zentralen Prüfungsämter hinter sich. Annette Pietsch leitet ein  "Massengeschäft, das alle Beteiligten enorm belastet."

Die Erfahrung, dass sich die Bedingungen in den verschiedenen Fachbereichen deutlich unterscheiden, macht auch Annette Pietsch, Geschäftsführerin des Prüfungsamts I. Zurzeit vertritt sie auch das Prüfungsamt II für die  Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät: "In den Naturwissenschaften sind die Studiengänge stärker durchstrukturiert und durch einen höheren Pflichtanteil gekennzeichnet, während die geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge hohe Wahlpflichtanteile haben." Dass die Belastung auch für die Mitarbeiter der Prüfungsämter durch die Einführung der modularisierten Studiengänge enorm gestiegen ist, verwundert nicht. "Die Zahl der Prüfungen ist um ein Vielfaches gestiegen, die Anforderungen an die Organisation der Prüfungen, aber auch die von den Studierenden nachgefragte Beratung haben die Arbeit im Prüfungsamt qualitativ und quantitativ verändert. Das ist ein Massengeschäft, das alle Beteiligten enorm belastet", so Pietsch.

Die Nerven sind auch bei Konstantin B. angespannt. Schlaf zu finden, damit hat er anders als Lisa keine Probleme. Augen zu und durch lautet bei ihm das Motto. Doch jetzt werden die letzten Stufen auf dem Weg zum Prüfungsraum immer mühsamer. Studierende und Dozenten kreuzen seinen Weg, manche von ihnen grüßen. Konstantin nimmt keinen von ihnen wirklich wahr. "Bitte ruhig verhalten – Prüfungen", steht auf einem Zettel an einer Glastür, die in den Seminarraumtrakt führt. Konstantin setzt sich vor seinem Prüfungszimmer auf einen Stuhl. Und plötzlich herrscht Stille. Die einzigen Geräusche kommen von ihm selbst. "Knack, knack, knack", sagen die kleinen Knochen von Konstantins linker Hand, als sie dem Druck der rechten nachgeben. Ein Tick, der ihn in Stresssituationen beruhigt.

Die Studienkultur habe sich im Vergleich zu früher enorm verändert, so Pietsch, die jedoch aus Erfahrung davon ausgeht, dass sich mindestens 85 Prozent der Studierenden mittlerweile mit ihrem Studienmodell angefreundet haben. "Für manche ist so ein verschultes System auch sehr vorteilhaft", weist Pietsch auf die Vorzüge des Modells hin.

"So ähnlich mögen sich die Kandidaten bei Günther Jauch fühlen."

Ganz anders empfindet das Nadine G.. "Ich fühle mich wie angekettet", beklagt sich die Zweifachbachelor-Studierende aufgrund des starren Systems und der großen Arbeitslast. Da sie nebenbei in der ULB arbeitet, sind für die 26-Jährige Zwölf-Stunden-Tage keine Ausnahme und das seit dem ersten Semester. "Ich habe kein Leben, ich studiere Bachelor", zitiert sie mit einer merklichen Portion Bitterkeit eine Gruppe aus dem sozialen Web-Netzwerk für Studenten "studivz". Sie ist sich sicher, dass viele Studierende vor allem psychisch stark belastet seien. Einen Vorteil sieht die Studentin im vierten Semester aber: "Den Langzeitstudierenden wird ein Riegel vorgeschoben, man muss sich eben bewusst für das entscheiden, was man machen will und es dann auch durchziehen."

Der Knackpunkt ist die erste Frage des Prüfers und die darauf folgende Antwort, das weiß Kerstin P. aus eigener Erfahrung. Hier entscheidet sich oft, in welche Richtung das Gespräch laufen wird. Der "point of no return" ist für sie gekommen, die mündliche Abschlussprüfung. "So ähnlich mögen sich die Kandidaten bei Günther Jauch fühlen", schießt ihr durch den Kopf. Dann stellt die bebrillte Professorin die erste Frage: Gedanken zischen durch Kerstins Kopf, verknüpfen sich zu Argumentationssträngen, um anschließend wie automatisch als Antwort aus ihrem Mund zu schießen. "Geht doch", denkt sie und der Pulsschlag beruhigt sich merklich. Der feste Griff der rechten Hand um das linke Handgelenk löst sich, so dass auf das krampfartige Festhalten nur noch die weiße, noch nicht wieder ganz durchblutete Stelle hindeutet.

Gut vorbereitet war sie, das wusste Kerstin, aber vor der Prüfung hatte sie doch Angst gehabt. Nun hat sie zwar die Millionen nicht gewonnen, aber dafür eine 1,3 in der gefürchteten Prüfung. Und die lässt sich, bis jetzt, auch bei Jauch und Co. nicht gewinnen.

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