|
muz

Sturz ins Leere

Studierende der WWU fallen aus allen Wolken
Formationssprünge

Ganz weit weg von allem sind Fallschirmspringer über den Wolken. Doch um es zum perfekten Formationssprung zu bringen, müssen die Sportler lange üben.

Foto: Sven Heeger

"Meine Oma", sagt Martin Niehof, "die hatte echt Angst um mich." Doch dann landete Schlagerstar Florian Silbereisen beim "Sommerfest der Volksmusik" mit dem Fallschirm auf dem Studiogelände. Bevor er sprang, hatte er noch einige Minuten aus dem Flugzeug moderiert. Für Niehofs Großmutter offensichtlich ein Aha-Erlebnis: "Seitdem findet sie mein Hobby völlig in Ordnung", kommentiert der 25-jährige Mathematik-Student trocken. "Ich glaube, sie denkt, wenn der Florian Silbereisen so was macht, dann hat das schon alles seine Richtigkeit!"

Niehof springt Fallschirm. Seitdem der Blondschopf im vergangenen Jahr beim Hochschulsport mit Freunden eine Info-Veranstaltung besuchte, brennt er für den Sport. Er meldete sich gemeinsam mit Jura-Studentin Dana Lottes beim Kooperationspartner, dem Fallschirmsportclub Rheine, für die ersten Tandemsprünge an. "Danach wollte ich sofort noch mal!" Sonst ganz der zurückhaltende Westfale, überschlägt sich Niehofs Stimme fast, als er von den Sprüngen erzählt, von der Aufregung und den Ängsten, die ihn kurz vorm Absprung packten. Auch Lottes’ braune Augen glänzen wie an Weihnachten, als sie von dem Glücksgefühl schwärmt, das sie nach dem Sprung überkam. "Ich bin tagelang nur noch grinsend rumgelaufen!" Mittlerweile sind die beiden rund 20 mal aus der vereinseigenen Cessna gesprungen – und auf dem besten Weg, bald ihre Lizenzen in den Händen zu halten.

Martin Niehof

"Ready! Set! Go!" Martin Niehoff verlässt auf 1500 Metern Höhe die Cessna. Sein Lehrer gibt ihm noch letzte Tipps.

Die Spannung an Bord ist spürbar, als Niehof und Lottes an diesem Vormittag im August auf dem Flugplatz Rheine-Eschendorf starten. "Jedes Mal eine neue Herausforderung", brüllt die zierliche Jura-Studentin gegen das ohrenbetäubende Brummen der Cessna an. Niehof und sie werden klassisch ausgebildet: Nach einem zweitägigen Grundkurs durften sie das erste Mal allein aus 1500 Metern Höhe springen. Ihre Fallschirme öffnete eine am Flugzeug befestigte Aufziehleine automatisch. Nach sechs Sprüngen zogen sie ihre Schirme dann erstmals selbstständig. Jetzt üben sie, sich in der Luft stabil zu halten: Hohlkreuz, Hände neben die Ohren, die Beine ab dem Knie nach oben abgeknickt. Niehof soll auf 1500 Metern abgesetzt werden, Lottes wird sich auf 3000 Metern aus dem Flugzeug stürzen.

Rumpelnd beschleunigt die Cessna auf der grasbewachsenen Startbahn, wird immer schneller und hebt ab. Leicht schlenkernd zieht sie hoch und lässt den Flugplatz weit hinter sich. Vier Springer hocken im Innenraum des kleinen Motorflugzeugs, der kaum größer ist als der heimische Schreibtisch. Sitze gibt es nicht, genauso wenig eine Tür. Stattdessen trennt Springer und Luft nur ein mit Metallstangen verstärkter Vorhang. Mit jedem Höhenmeter nimmt die Temperatur in der Cessna ab und der Druck auf den Ohren zu. Wolkenberge türmen sich am Horizont auf, strahlendes Blau umgibt die Maschine. Andächtig starren die Springer nach draußen. "Schön, oder?" raunt der Pilot.

Plötzlich kommt Unruhe auf im hinteren Teil des Flugzeugs. Niehof, der bis eben noch mit dem Rücken in Flugrichtung gesessen hat, dreht sich nun um. Auf ein Zeichen des Piloten rollt er den Vorhang hoch und klettet ihn fest. Vorsichtig tapst er nach draußen auf die metallene Stiege, bringt sich in Sprungstellung, schaut seinem Lehrer in die Augen und ruft: "Ready! Set! Go!" Dann springt er. Wenige Augenblicke später ist er nur noch als schwarzer Punkt unterhalb der Cessna zu erkennen. Nach einigen Minuten Steigflug wiederholt sich dasselbe Spiel auf 3000 Metern Höhe mit Lottes und den anderen beiden Passagieren. Lautes Getöse umgibt sie auf den ersten 1500 Metern. 50 Meter stürzt sie pro Sekunde in die Tiefe. Dann folgt ein leichter Ruck und die längliche Hauptkappe des Flächenfallschirms öffnet sich. Plötzlich umgibt sie Stille, leise pfeift ihr der Wind um die Ohren. Nach etwa sieben Minuten landet sie sicher auf dem Flughafengelände.

"Wenn ich kurz vorm Fallenlassen auf dem Trittbrett stehe, ist das der letzte Kick."

Geht etwas schief, schnellt auf 225 Metern ein Reserveschirm in die Höhe – dank Öffnungsautomaten. "Da kann der Springer sogar bewusstlos sein, er wird garantiert lebendig unten ankommen", erklärt Torge Sulkiewicz. Der Geschäftsführer beim FSC Rheine fährt zwar gern schnell Auto und spricht alle Frauen mit "Schatzi" an, beim Springen geht er aber auf Nummer sicher. "Ein Sprung mit Reserveschirm pro Jahr", berichtet er stolz von seinem Verein. Das sei wenig. Sowieso sei es statistisch wahrscheinlicher, auf dem Weg zum Fallschirmspringen im Auto ums Leben zu kommen als beim Sprung selbst, erklärt er. Nach Angaben des Deutschen Fallschirmsport-Verband sind 2006 acht Springer tödlich verunglückt. Demgegenüber stehen 1596 Personen, die im Auto ums Leben kamen. Allerdings sind auch mehr Menschen im PKW als mit dem Fallschirm unterwegs.

Philippe Fuchs übt am Boden

Verdrehte Fangleinen kennt Philippe Fuchs nicht nur von seinen Übungen am Boden. Aber in der Luft sollte man dann einen kühlen Kopf bewahren.

Die Fragen nach der Gefahr müssen die Lehrer vom FSC Rheine auch beim Grundkurs beantworten, in dem neun blutige Anfänger sitzen, die zum größten Teil nicht einmal einen Tandemsprung absolviert haben. Nicht umsonst liegt zwischen der Gefahren-Theorieeinheit und dem ersten Sprung eine Nacht. "Da können die Teilnehmer noch einmal in sich gehen", sagt Sulkiewicz. "Das ist so vorgeschrieben." Pflicht ist auch eine ärztliche Untersuchung, bei der der Hausarzt checken muss, ob angehende Fallschirmsportler körperlich und psychisch in der Lage sind zu springen.

Die Liste möglicher Probleme ist lang: Schnüre könnten verdreht, die Zellen im Schirm nicht vollständig mit Luft gefüllt sein oder Fangleinen über der Kappe liegen. Hörbar schlucken einige Teilnehmer. "Verdrehte Fangleinen kommen bei zehn von zwölf Sprüngen vor", erklärt Lehrerin Daniela Betz. "Wenn man unten von den Verdrehern hört, bekommt man fast einen Herzinfarkt", sagt Doktorand Philippe Fuchs. Im vergangenen Jahr hat er bereits zwei Sprünge hinter sich gebracht – einen mit verdrehten Fangleinen. "Oben denkt man sich: 'Ach, eine Verdrehung. Dann dreh’ ich mich mal raus!'"

"Ich war 34 Sekunden im freien Fall", jubelt Lottes, die vor dem Flugzeug sicher auf dem Flugplatz gelandet ist. Sie strahlt über das ganze Gesicht. "Das Grinsen lässt nie nach." Wenn die Cessna unten starte, verspüre sie immer ein Kribbeln im Bauch. Nicht direkt Angst, eher eine diffuse Aufregung. Mit jedem Höhenmeter, den man steige, verfliege auch das Gefühl mehr und mehr. "Wenn ich dann kurz vorm Fallenlassen auf dem Trittbrett stehe, ist das der letzte Kick." Der Wind pfeift ihr dort um die Ohren, überlagert vom lauten Motorbrummen der kleinen Maschine.

Den Sprung an sich bezeichnet Lottes als genial. Wieder kribbele es im Bauch, diesmal vor überschäumender Freude. Erst mit geöffneter Fallschirmkappe werde plötzlich alles sehr langsam. "Um einen herum klare Luft, man ist ganz weit weg von allem", schwärmt Lottes. Erst kurz vor der Landung steigen Adrenalinspiegel und Spannung wieder, wenn der Landepunkt in greifbare Nähe gerückt ist. "Komme ich dort an, wo ich hin will?" fragt sich die Studentin in dem Moment, den sie und alle anderen Springer als den gefährlichsten am ganzen Flug bezeichnen.

Dana Lottes springt gleich aus dem Flugzeug

Mit Flugzeugen im Bauch steigt Dana Lottes in das Flugzeug ein. Sie darf sich gleich aus 3000 Metern Höhe Richtung Erdboden werfen.

Fotos (3): jri

Der Sprung war Lottes’ erster aus 3000 Metern Höhe. Bis sie zur Lizenzprüfung antreten darf, muss sie noch lernen, sich stabil aus dem Flugzeug fallen zu lassen. Wie Akrobatik hat auch Fallschirmspringen viel mit Körperbeherrschung zu tun: Bei Sprüngen muss Lottes später Salti, Rollen und Drehungen beherrschen. In der Prüfung muss sie ihr Können nicht nur in einem praktischen Teil beweisen, sondern auch sieben theoretische Gebiete beherrschen: Aerodynamik, Freifall, menschliches Leistungsvermögen, Verhalten in besonderen Fällen, Technik, Meteorologie und Luftrecht.

Billig sind andere Hobbies. Wer seine Lizenz im Fallschirmspringen erwerben will, muss tief in die Tasche greifen: Allein 500 Euro werden für die Ausbildung fällig. Kosten für die einzelnen Sprünge sind darin noch nicht enthalten. Wie beim Führerschein lässt es sich schwer sagen, wie viele Sprünge man braucht, bis man sich der Prüfung stellen kann – dreißig sind es jedoch mindestens. Bezahlt werden die nach der Höhe. Während ein Sprung aus 4000 Meter 26,50 Euro kostet, zahlen Springer aus 1500 Meter nur 13 Euro. Dazu kommen noch rund 220 Euro jährliche Vereinsgebühr, Neumitglieder zahlen 80 Euro Aufnahmegebühr und in den ersten fünf Jahren 92 Euro zusätzlich pro Jahr. Neulinge sind also schnell mit 1600 Euro dabei.

"Ich wusste nach dem Tandemsprung im vergangenen Jahr, dass ich weitermache", erzählt Lottes. Sie begann, Geld zur Seite zu legen. Um sich die teure Ausbildung leisten zu können, kellnert sie regelmäßig in einem Restaurant und auf Veranstaltungen. Statt in den Urlaub zu fahren, ist sie dieses Jahr in jeder freien Minute auf dem Flugplatz zu finden. "Ich habe mich einfach etwas eingeschränkt", sagt sie.

"Fallschirmspringen macht sich später gut in den Bewerbungsgesprächen."

Auch Niehof spart für seine Lizenz. Er arbeitet im Getränkeshop eines Supermarktes und hilft auf dem elterlichen Bauernhof aus. "Ich geb’ nicht mehr soviel Geld auf Parties aus", hat er festgestellt. Trinken könne er momentan sowieso nichts, weil er für einen Marathon trainiert. In Raten stottern die beiden das Geld für ihre Lizenzen ab. Dank Florian Silbereisen hat Niehof das Vertrauen seiner Oma gewonnen. Und wenn es nach seiner Mutter geht, muss er sich um die weitere Finanzierung seines kostspieligen Hobbies auch keine Sorgen mehr machen: "Sie meint, Fallschirmspringen macht sich später gut in Bewerbungsgesprächen."

jri