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Die Grenzen sind fließend

Medizinhistoriker arbeiten Geschichte der Eugenik auf

Wenn Eltern über Präimplantationsdiagnostik (PID) den genetischen und damit den möglichen späteren Gesundheitszustand ihrer ungeborenen Kinder erfahren wollen, gehört das heute zum medizinischen Alltag. Die ethischen Auswirkungen mögen umstritten sein, der Wunsch von Eltern, dass ihre Kinder gesund sein sollen, ist verständlich. Unverständlich ist heute, dass verblendete Ideologen tatsächlich glaubten, durch Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen das genetische Niveau der eigenen "Rasse" verbessern zu können. Und doch haben beide Gedankengänge ihre Ursprünge in derselben Theorie. Am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin wird im Rahmen des Schwerpunktes "Ursprünge, Arten und Folgen des Konstruks 'Bevölkerung' vor, im und nach dem Dritten Reich" der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unter Leitung von Prof.  Hans-Peter Kröner das Verhältnis von Eugenik, beziehungsweise Rassenhygiene und Humangenetik zu den Bevölkerungswissenschaften im Kontext des anglo-amerikanischer Raumes von 1890 bis 1970 untersucht.

Francis Galton, ein Vetter ersten Grades von Charles Darwin, konnte nicht vorhersehen, welche Verbrechen auch im Namen der Eugenik folgen würden, als er 1883 den Begriff prägte. Ziel der Eugenik war es, durch gezielte Zucht und die Verhinderung der Fortpflanzung von bestimmten Personengruppen den Anteil als positiv definierter Gene in bestimmten Populationen zu vergrößern. In der Anwendung von Darwins Theorien auf gesellschaftliche Vorstellungen, den Sozialdarwinismus, wurde die Eugenik schnell populär. Rund 100.000 "Epileptiker, Schwachsinnige und Geistesschwache", so schätzt man, wurden allein in den USA seit Beginn des 20. Jahrhunderts zwangssterilisiert. In Deutschland wurde ein entsprechendes Gesetz bereits in der Weimarer Republik vorbereitet, aber erst von den Nationalsozialisten "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" 1933 erlassen. Millionen Menschen wurden zwangssterilisiert oder in Konzentrationslagern ermordet, weil sie nicht dem genetischen Ideal der Nationalsozialisten entsprachen.

"Uns interessiert das Verhältnis zwischen Eugenik und klassischer Bevölkerungswissenschaft. Die hat sich aus der Kameralistik heraus entwickelt, aber die medizinische Statistik hat schon immer eine große Rolle gespielt. Ab den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde sie sehr stark von biologisch orientierten Eugenikern geprägt", erklärt Kröner. "Die Bevölkerungswissenschaft hat vorwiegend auf Demographie und  Soziologie gesetzt", erläutert Dr. Heike Petermann, "die Eugeniker wollten das Fortpflanzungsverhalten so beeinflussen, dass das Erbgut verbessert wurde."  Definiert wurden die Begriffe Eugenik und Rassehygiene niemals genau, die Grenzen waren fließend. Rassenhygiene wurde seit den 1920er Jahren von jenen favorisiert, die die Reinheit der Rasse betonen wollten, wie es zum Beispiel Prof. Fritz Lenz in München getan hat. Er wurde zu einem der führenden Rassenhygieniker des Dritten Reiches.

"Die alten Personen waren auch nach 1945 weiter präsent."

Die Eugenik stand eher, so Kröner, für die medizinisch Arbeitenden und kann damit als eine der Wurzeln der modernen Humangenetik angesehen werden. Zu ihren Vertretern gehörte Otmar von Verschuer, der Doktorvater des KZ-Arztes Josef Mengele. Verschuer wurde 1951 nach Münster berufen, um hier das neu eingerichtete Institut für Humangenetik zu leiten.

Eugenik als Wissenschaft wurde vor dem Nationalsozialimus von allen politischen Seiten und auch von beiden christlichen Kirchen vertreten, mit jeweils unterschiedlichen Intentionen und Strategien. Vor 1945 habe es gar keine Trennung zwischen Eugenik, Humangenetik und Rassenanthropologie gegeben, so Petermann, nach ‘45 wurde die Humangenetik von den ehemaligen Eugenikern weiter geführt.  „Die alten Personen waren weiter präsent: Lenz in Göttingen, Verschuer ab 1951 in Münster“, erzählt Petermann. Sie suchten sich neue Forschungsfelder im Bereich der Humangenetik, die teilweise an Untersuchungen vor 1945 anknüpften. Erst in den 1980er Jahren trennten sich anthropologische und genetische Gesellschaft.
Die Aufregung um Karl Wilhelm Jötten (s. a. Artikel Opportunistische Anpassung), Direktor des Hygiene-Instituts während der NS-Herrschaft, zeigt, dass es ausreicht, den Verdacht eugenischen Denkens auf einen Menschen zu lenken, um ihn zu diskreditieren. "Dabei ist Jötten eine marginale Figur in der eugenischen Bewegung. Er taucht in der zeitgenössischen Literatur kaum auf", weiß Petermann. Und Fritz Lenz habe in den 1920er Jahren Verschuer sogar vor Münster gewarnt, weil dort Jötten arbeitete, so Kröner.

Eugenisches Denken ist allerdings weiter präsent, auch wenn der Begriff inzwischen verpönt ist. Eine späte Folge sind Kontrazeptive, die auch aus anderen Gründen genommen werden, Samenbanken und PID – die moralischen Auswirkungen muss jeder für sich beurteilen.

bn