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Woodstock in Westfalen

Vor 40 Jahren gingen die Studenten auch in Münster auf die Straße

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Heftige Proteste gab es beim Besuch des Kramermahls von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, an denen sich zahlreiche Studierende beteiligten.

Foto: Hänscheid

"Bei Regen findet die Revolution im Saal statt." Dieses Filmzitat fällt Dr. Axel Schollmeier ein, wenn er an die "wilden Jahre" in Münster denkt. Während in den Sommersemestern Studenten demonstrierten und Institute besetzten, hätte Münster im Winter oder den Semesterferien weniger von den Protesten gespürt. Als Kurator der Ausstellung "Die wilden Jahre" hat Schollmeier Hunderte von Fotos, Filmdokumenten und Zeitungsartikeln aus dieser Zeit gesichtet.

Revolution nur im Sommer? Prof. Hans-Jürgen Krysmanski lässt auf die münsterschen Proteste nichts kommen: "Münster hat intellektuell in der Oberliga der Studentenbewegung gespielt!" Mehr noch: Neben Berlin und Frankfurt habe die westfälische Stadt als eines der Zentren der 68er-Bewegung gegolten. Dass er Münster einmal so loben würde, hätte sich der junge Krysmanski nicht träumen lassen, als er 1960 aus dem weltoffenen Hamburg ins vermeintlich verschlafene Domstädtchen kam. Der Kontrast war offensichtlich: Statt Kiez stand Kirche hoch im Kurs, statt Beatles zu hören, betete man. "Es war schrecklich! Es war wirklich provinziell!" lästert Krysmanski noch heute.

Der heute 73-Jährige verwand das Trauma, denn er war mit einem der größten Soziologen seiner Zeit nach Münster gekommen: Helmut Schelsky. Ab 1962 arbeitete Krysmanski als dessen Assistent und bekam über ihn Zugang zu einer Welt, die er bislang an keiner anderen Universität kennen gelernt hatte. Intellektuelle der Fächer Soziologie und Philosophie pilgerten nach Münster zu Schelsky. "Aus diesem Milieu bildeten sich studentische Führer heraus, die rege Beziehungen nach Berlin und Frankfurt pflegten", erklärt Krysmanski.

In der altehrwürdigen Ordinarienuniversität hatte bis dato nur eine Gruppe das Sagen, und das waren die Professoren. Doch die zeigten sich wortkarg. In den Gremien regelten strenge Protokolle den Ablauf, Diskussionen gab es nicht. Altmodisch mutete auch die akademische Nachwuchsförderung an: Freie Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter oder Professoren wurden nicht ausgeschrieben, sondern über persönliche Kontakte vergeben. Krysmanski erlebte diese Zeiten noch, nachdem er sich 1967 habilitiert hatte: "Mit meiner Gattin musste ich Sonntag vormittags nach der Messe bei den wichtigsten Professoren der Fakultät vorstellig werden." Dieses System versagte, als sich die Universitäten zu Massenbetrieben entwickeln, in denen nicht mehr jeder jeden kannte. Auf über 17000 Studierende war die WWU bis Ende der sechziger Jahre angewachsen. Überfüllte Seminare und autoritäre Strukturen sorgten bei den Studierenden für immer mehr Unmut. Über 7000 gingen bereits 1965 auf die Straße, um gegen die Bildungspolitik des Landes zu protestieren.

Winfried Nachtwei war einer der Studenten, die dem Protest anfangs noch skeptisch gegenüber standen. Der heutige Grünen-Bundestagsabgeordnete rechnete sich in den sechziger Jahren dem konservativen Lager zu. Seine Haare waren kurz, der Bart noch ab. Eine militärische Ausbildung zum Leutnant der Reserve lag gerade hinter ihm. Hierarchien waren ihm vertraut. Doch als er 1967 das erste Mal die Uni betrat, erschraken ihn die verkrusteten Strukturen: "Hier verlassen Sie den demokratischen Sektor", schoss es ihm durch den Kopf.

Als am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg in Berlin von einem Polizisten erschossen wurde, beschlossen münstersche AStA-Mitglieder, zu seiner Beerdigung nach Hannover zu fahren. Überall an der Uni stellten Studierende Spendenbüchsen für seine Angehörigen auf. Schuld an Ohnesorgs Tod, erklärte das Studentenparlament, sei eindeutig die Springer-Presse, die "fortlaufend versucht, die öffentliche Meinung gegen die unruhigen Berliner Studenten aufzuhetzen". Über 1000 münstersche Studenten beteiligten sich schließlich am 7. Juni an einem Trauerzug für den getöteten Ohnesorg.

"Es gibt wichtigere Dinge als den Oberen zu gefallen."

Die ersten Proteste verfolgte Nachtwei mit einer Mischung aus Argwohn und Faszination. Ihm missfiel die Intoleranz einiger Redner, die die BRD als "präfaschistisches System" beschimpften. Beim Fackelschweigemarsch nach dem Tod von Benno Ohnesorg lief er jedoch mit. Es war das aufkeimende Gruppengefühl, das Nachtwei ergriff. "Ums Inhaltliche ging es gar nicht mal so sehr", sagt der 61-Jährige. Noch einte die Bewegung alle, die sich später abspalten sollten: Spontis wie Menschenrechtler, Friedensbewegte wie spätere RAF-Mitglieder. Gemeinsam war allen nur das diffuse Ziel, bestehende Verhältnisse zu ändern. Auch Krysmanski schloss sich der bunten Bewegung an. Auslöser war das Attentat am 11. April 1968 des Hilfsarbeiters Josef Bachmann auf Studentenführer Rudi Dutschke. "Da waren wir unglaublich empört", erinnert er sich an seine Gefühle, als er von der Nachricht erfuhr. Er, der junge Dozent, eilte ins AStA-Häuschen und bepinselte gemeinsam mit Studenten und Assistenten Plakate für eine Spontan-Kundgebung. "Passion 1968" stand darauf. Es war Karfreitag.

Der Anschlag auf Dutschke radikalisierte die Proteste zwar in vielen deutschen Universitätsstädten, aber nicht in Münster: Während in München bei Unruhen sogar zwei Menschen starben, liefen im beschaulichen Westfalen bei einer ersten Demo gerade mal 450 Menschen mit – es waren Semesterferien. Am 16. April 1968 folgte eine weitere Protestkundgebung vor der Lamberti-Kirche, diesmal mit 1000 Teilnehmern. Alles verlief so friedlich, dass sogar die CDU den Studierenden in einer Resolution für ihre Besonnenheit dankte.
Die Notstandsgesetze heizten im Mai 1968 die Proteste an. 60000 Demonstranten reisten aus der ganzen BRD nach Bonn an, um gegen sie zu demonstrieren. "Am 11. Mai bundesbahne ich in meinem Revolutionsdress nach Bonn zum Sternmarsch der Notstandsgegner, um als Befürworter beobachtend die Anti-Massen zu erleben", so Nachtwei in seinem Tagebuch.

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Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren:  1952 herrschte bei der Rektoratsübergabe  noch die alte Ordinarienherrlichkeit.

   Foto: Universitätsarchiv

Erstaunlich, anziehend, bunt – all das ging Nachtwei durch den Kopf, als er mittendrin war im Bonner Protest. Ihm wurde bewusst: Das waren keine verbohrten Betonköpfe, die dort die freiheitliche demokratische Grundordnung zu Fall bringen wollten, sondern junge Studenten wie er selbst auch. Die, vor denen die Konservativen immer gewarnt hatten, waren bei den Protesten in der Minderheit. Nachtwei beobachtete: "Im Karnevalsbunten Westfalenzug sehe ich einige Münsteraner Linke recht unscheinbar andere nachmachen." Auch Nachtwei ließ sich Bart und lange Haare wachsen. "Und kurz vorher hatte ich noch eine Wehrübung gemacht", erinnert sich der heutige Grünen-Politiker.

Krysmanski entdeckte endgültig den Revoluzzer in sich, als die Notstandsgesetze kurz vor der Verabschiedung standen und münstersche Studenten drei Tage Ende Mai '68 den H1 besetzten. "Das war für mich eine Art Coming-Out", sagt er im Rückblick. Er kam dienstags aus einer Fakultätssitzung nach Hause, adrett mit Anzug und Krawatte, "denn das war ja Pflicht damals". Kaum hörte er von der H1-Besetzung, pfefferte er sein Jackett in die Ecke und tauschte es gegen einen knallroten Pullover. "Jetzt reicht’s!" dachte er sich und radelte zur "Informations- und Streikzentrale", wie ein Banner am Hörsaalgebäude Hindenburgplatz verkündete.

Angst vor beruflichen Nachteilen hatte Krysmanski nie. "Es gibt wichtigere Dinge, als den Oberen zu gefallen", ist er sich nach wie vor sicher. Das sei überhaupt die Essenz von '68 gewesen: alles in Frage zu stellen und keinem mehr nach dem Mund zu reden. "Es ging nicht nur um die Notstandsgesetze", sagt Krysmanski heute. Eine ganze Generation habe ihre eigenen Kräfte entdeckt, sei eigene Wege gegangen. Die Atmosphäre im H1 – "wie Woodstock", schwärmt der Soziologieprofessor. "Das war Aggressivität und Liebe durcheinander."

Eine Zeit voller politischer und historischer Hoffnungen sei das gewesen, meint auch Nachtwei. Die Zustände im westlichen Europa nahmen die Studenten als zementiert wahr, von den USA waren sie durch Vietnamkrieg und Iranpolitik enttäuscht. "Wir erfuhren ja erst in den Jahren 68/69, was da wirklich lief", so Nachtwei. Auch die sowjetische Politik stieß bei vielen auf Abneigung. Ihre Hoffnungen setzten sie stattdessen in einen Aufbruch in der Dritten Welt – und in die Arbeiterklasse.

Immer wieder gab es in dieser Zeit seitens der Studenten Verbrüderungsversuche mit dem münsterschen "Proletariat". Während der H1-Besetzung blockierten etwa 50 Studenten im Morgengrauen die Bushallen der Stadtwerke, um mit den Fahrern über die Notstandsgesetze zu diskutieren. Doch mehr als ein müdes Kopfschütteln hatten die nicht übrig. Münsters Bürger verärgerte indes die Blockade-Aktion. Einer drohte am Telefon der MZ-Redaktion mit einem Sit-in vor der Mensa, um den Studenten das "subventionierte Mittagessen" zu verderben. "Wir waren isoliert", beschreibt Nachtwei die Situation der demonstrierenden Studenten. "Die Münsteraner standen uns abweisend und feindlich gegenüber."

"Offensichtlich gab es hier eine gute Gesprächskultur."

Als sich zum traditionellen Kramermahl der münsterschen Kaufmannschaft einige Monate später am 22. Januar 1969 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ankündigte, startete der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) auf Plakaten den Aufruf: "Scheißt ihm in den Grünkohl!" Etwa 3000 Studenten warteten bei Nieselregen auf die Ankunft des Kanzlers. Auch Nachtwei tigerte über den Prinzipalmarkt und – ganz der strategisch denkende Leutnant der Reserve – sondierte die Lage: "Für bewegliche Trupps wäre es ein leichtes gewesen, alle Zugänge zum Saal zu verunsichern", notiert er danach in seinem Tagebuch. Auf der einen Seite flog ein Ei, auf der anderen etwas Pfeffer. Amüsiert beobachtete Nachtwei, wie ein Revolutionär seinen "grünen Bullengegner" beleidigt anblaffte: "Äh, sei doch nicht so unfair!"

Im Frühsommer 1969 eskalierten die Konflikte das erste Mal richtig: Etwa 300 Studierende verrammelten mit Brettern, Stangen und einem Baugerüst nach einer Konventssitzung im Schloss den Haupteingang. Einige Wochen später kam es am Rande einer Dekanewahl der Philosophischen Fakultät zu einer "regelrechten Wasser- und Schlag-Schlacht". 2000 Studenten demonstrierten am 10. Juni infolge gegen den harten Polizei-Einsatz und die Uni-Strukturen. Eine Woche später gingen die Pfingstferien los. „Da kehrte erst mal wieder Ruhe ein" sagt Schollmeier.

Es sollten nicht die letzten Proteste in Münster sein. Doch anders als in Berlin oder Frankfurt waren sie bis auf wenige Ausnahmen gewaltfrei – ein Umstand, der laut Schollmeier sowohl den friedlichen Demonstranten als auch den ruhigen münsterschen Polizisten zu verdanken ist. "Das spricht für Münster", findet Schollmeier. "Offensichtlich gab es hier eine gute Gesprächskultur."

Was bleibt von ‘68? Dass damals alles besser war, hält Nachtwei für eine "schräge Verallgemeinerung". So sehr die Bewegung Münster aufgelockert habe, so dogmatisch und unsachlich sei sie in Teilen gewesen. Dennoch: Die Umweltbewegung und damit die Grünen hätten sich ohne ‘68 anders oder gar nicht entwickelt. Krysmanski geht weiter. So wie ihn die Jahre prägten, prägten sie seiner Meinung nach auch eine ganze Riege von Politikern aus Münster. "Schauen Sie sich die Herren Polenz, Nachtwei, Milbradt und Catenhusen an – wie weltoffen die sind!" Von den heutigen Studierenden wünscht er sich mehr Engagement. Sie seien angepasst, hätten nur noch Jobsorgen und das Gefühl für die wirklich wichtigen Dinge vergessen. "Das war in den Fünfzigern genauso." Krysmanskis Miene hellt sich auf, als er triumphierend sagt: "Doch dann kamen eben die Sechziger!"

jri

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