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Liebe in Zeiten des Rufs

Rund 20 Prozent der münsterschen Wissenschaftler sehen Partner und Familie nur am Wochenende

Wie einfach das noch vor einem Jahr war. Schaute sie aus dem Wohnzimmerfenster der Münchner Wohnung, fiel ihr Blick auf die katholische Universitätskirche der Ludwig-Maximilians-Universität. Keine sieben Minuten lief sie, um ihren Arbeitsplatz, den Hörsaal, zu erreichen. Den Weg dorthin konnte sie gemeinsam mit Ehemann und Theologie-Professor Jan Rohls zu Fuß zurücklegen. Selbst der 13-jährige Sohn Felix begleitete die beiden bis vor drei Jahren noch ein Stück auf dem Weg zu seiner Grundschule. "Wir führten ein Leben, das sich auf einer einzigen Straße abspielte", erinnert sich Prof. Christina Hoegen-Rohls.

Der Ruf änderte alles. Seit April lehrt sie am Institut für Evangelische Theologie und ihre Didaktik in Münster. Der Weg von ihrer heimatlichen Wohnung zum Arbeitsplatz dauert nicht mehr sieben Minuten, sondern im besten Fall vier Stunden. Statt zu Fuß legt sie die Strecke nun mit dem Flugzeug zurück. Abends warten nicht Familie, das gemütliche Sofa und ein schnurrender Kater auf sie, sondern ein kleines Appartement in Hiltrup. "Jetzt muss ich über die Wolken springen, um meine Männer zu sehen", sagt sie und lacht. Ihren Humor hat sie beim Einchecken am Flughafen nicht zurückgelassen.

Vom Foto trennen ihn 50 Zentimeter, 400 Kilometer von seiner Frau.

Rund 20 Prozent der münsterschen Hochschullehrer pendeln zwischen Arbeitsplatz und Familie, schätzt Christiane Thoden, Abteilungsleiterin für Personal- und Berufungsangelegenheiten der Beamten an der WWU. "Die Gegebenheiten haben sich geändert", hat sie beobachtet. Während früher viele Professorengattinnen Hausfrauen und damit örtlich flexibel waren, seien heutzutage die meisten Partner hochqualifiziert – sofern nicht sogar selbst Professorin. In Zeiten eines Wettbewerbs um Spitzenwissenschaftler müsse die WWU Münster als familienfreundliche Hochschule auch den Aspekt Privatleben berücksichtigen.

Das war im Oktober 1996 noch anders, als der Planetologe Prof. Elmar Jessberger nach Münster kam. Sein Mikrokosmos liegt hinter einer grauen Tür in der Wilhelm-Klemm-Straße. Bis unter die Decke stapeln sich in den Regalen hinter seinem Bürostuhl Bücher, Zeitschriften und Ordner. Inmitten der Wissenschaft thront sie, schwarzhaarig mit einem offenen Lachen im silbernen Bilderrahmen: seine Frau. Vom Foto trennen ihn 50 Zentimeter, von ihr 400 Kilometer. Seit elf Jahren führt das Ehepaar eine Fernbeziehung. "Es war keine Frage, dass ich den Ruf annehme", sagt er. Dass sie ihm nach Münster folgen würde, stand auch nicht zur Debatte – seit 1981 führt sie eine Apotheke in Heidelberg. "Was für mich die Professur ist, ist für meine Frau die Apotheke."

Als der Ruf kam, hatte Jessberger eine Dauerstelle am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Die Stadt fesselte ihn seit seinem Vordiplom. Nach einer Zwischenstation in den USA kehrte er mit seiner Familie Mitte der siebziger Jahre wieder dorthin zurück. In schillernden Farben erzählt er vom offenen Haus der Familie, seiner Frau, seinen Söhnen, den Freunden und der Stadt: "Ich bin verwurzelt in Heidelberg", schließt Jessberger.

Doch die Wissenschaft rief. Auf die Professur verzichten, weil in Heidelberg alles so schön war? Jessberger schüttelt ungläubig den Kopf. "Stellen, bei denen ich mich bewerben konnte, kamen vielleicht alle fünf Jahre", setzt er an. Seiner Frau und ihm sei das stets klar gewesen. Systematisch arbeitete er auf eine Wissenschaftskarriere hin. Als ihm die Professur in Münster, dem einzigen deutschen Institut für Planetologie, angeboten wurde, griff er zu. Hat er je daran gedacht, den Ruf abzulehnen? Verständnislos antwortet er mit einer Gegenfrage: "Warum habilitieren Sie sich dann?"

Die Fernbeziehung stellte das Ehepaar, deren erwachsene Söhne mittlerweile das Haus verlassen hatten, vor neue Herausforderungen. Telefonieren, das war vorher nichts für den Wissenschaftler. Amüsiert erzählt er, dass manche Kollegen von amerikanischen Kongressen aus ihre Familien in Deutschland anriefen. "Da kosteten drei Minuten 30 Mark!" Seiner damaligen Meinung nach überflüssig: "Wenn das Flugzeug nicht gut gelandet wäre, dann hätten die das ja zu Hause im Fernsehen gesehen." Als er nach Münster zog und seine Frau nur am Wochenende sah, merkte er, wie sehr ihm ihr täglicher Austausch am Herzen lag. "Wir haben gelernt zu telefonieren", sagt er. Entlastete Wochenenden, Vertrautheit und ein schwindendes Besuchsgefühl waren der Lohn für das Ehepaar.

Auch Prof. Klaus Stierstorfer, Geschäftsführender Direktor des Englischen Seminars, pendelt zweimal wöchentlich zwischen seinem Arbeitsort Münster und Frankfurt. Freitagabends steigt er zum ersten Mal ins Auto und fährt ins Hessische. Montags in der Frühe kehrt er zurück. "Eigentlich hab’ ich’s gar nicht so schlecht", sagt der Anglist mit dem süddeutschen Dialekt und lacht verschmitzt unter seinem dunklen Schnurrbart. "Wenn ich aus Frankfurt rausfahre, fahren alle anderen rein."

Montagabends geht es erneut zu seiner Familie nach Südhessen. "Dienstags gehe ich mit meiner Tochter immer zur Spielgruppe" erzählt er stolz – "als Ehrenmutter". Professorentitel und Wissenschaftskarriere spielen dort keine Rolle mehr. Stattdessen singt er Lieder mit den Kleinen. "Da ist man 'Mutter' unter Müttern." Mittwochmorgens um sechs Uhr steht er auf und setzt sich wenig später ins Auto, um wieder an seinen Arbeitsplatz ins rund 300 Kilometer entfernte Englische Seminar zu fahren.

"Die Zeit, die ich hier bin, nehme ich mir ganz für die Betreuung der Studierenden."

Dort sitzt Stierstorfer an diesem Morgen. An der Wand hinter ihm lehnt eine Leiter, die Kaffeemaschine funktioniert noch nicht richtig. Versonnen schaut er aus dem Fenster in den wolkenverhangenen Himmel über Münster, doch von Bedrückung keine Spur. Auf lange Sicht will seine Frau mit der zweijährigen Tochter Annelina in die Domstadt nachkommen. "Uns gefällt’s hier halt sehr gut", schwärmt er und erzählt von der grünen Promenade im Sommer, der idealen Stadtgröße und den vielen Freiheiten für seine kleine Tochter. "In Frankfurt wohnt ja keiner freiwillig", sagt der Professor mit neuem münsterschen Lokalpatriotismus in der Stimme. Und im Gegensatz zu ihm sei seine Frau beruflich nicht dauerhaft an einen Ort gebunden.

16-Stunden-Tage sind für ihn keine Seltenheit. "Die Zeit, die ich hier bin, nehme ich mir für die Betreuung Studierender und administrative Aufgaben." Putzen, Wäsche waschen und Geschirr spülen: Dafür vergeudet er während der kostbaren Tage in Münster keine Minute – und wohnt in einer Pension. "Betreutes Wohnen ist mir am liebsten", sagt Stierstorfer und lacht.

Die Vorteile kennt auch Hoegen-Rohls. Bevor sie ihre eigenen 20 Quadratmeter bezog, wohnte sie in einer Pension. "Meine Hände waren gepflegt wie noch nie", bemerkt die Theologin vergnügt. Doch persönliche Gegenstände wie Kerzen, Fotos und Blumen fehlten ihr, sie zog um. "Ein Mini-Appartement! Aber man braucht ja nur einen Schreibtisch." Die optimalen Arbeitsbedingungen am Institut entschädigen sie für alle Entbehrungen. Als Professorin für Bibelwissenschaften arbeitet sie nicht nur in ihrem Forschungsschwerpunkt, dem Neuen Testament, sondern lehrt auch Altes Testament und betreut Lehramtsstudierende während ihrer Praktika an Schulen. Dieser Kontakt liegt Hoegen-Rohls, die als Gymnasiallehrerin gearbeitet hat, besonders am Herzen. Einzig beim Abendbrot ohne Familie wird ihr manchmal bewusst: "Jetzt bin ich allein."

Zum Zeitpunkt des Gesprächs liegen nur noch sechs Stunden zwischen ihr und "ihren Männern". Es ist später Freitagnachmittag, das Institut an der Georgskommende ist größtenteils verwaist. Um 20 Uhr startet ihr Flieger Richtung München. Heute Abend wartet nicht das kleine Zimmer auf sie. Auf dem Münchner Sofa empfangen sie Sohn Felix mit dem schnurrenden Kater Minko auf dem Schoß und ihr Mann mit einem Glas Rotwein.

jri