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Immer ein offenes Ohr für Kummer und Sorgen

Studierende gründeten "Nightline" als nächtliche Krisenhilfe

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Wenn Alkohol, Koffein und Nikotin nicht mehr helfen, bleibt immer noch der Griff zum Telefonhörer.

Foto: jri

 

Der Freund hat gerade Schluss gemacht, und im WG-Räderwerk knirscht es ganz gewaltig: Schlimmer kann’s eigentlich nicht mehr kommen – oder? Doch: Zu allem Überfluss ist es Mitternacht, die beste Freundin liegt im Tiefschlaf und hat ihr Handy ausgeschaltet. Was tun in solchen Situationen? Studierende in Heidelberg, Freiburg oder Zürich können seit längerem zum Telefonhörer greifen und so genannte "Nightlines" – Sorgentelefone von Studierenden für Studierende – anrufen. Eine ähnliche Kummernummer planen nun in Münster 16 Studierende unterschiedlicher Fachbereiche.

"Eine echte Nische", dachte sich der 23-jährige Medizinstudent Stefan, als er vor einigen Monaten über die "Nightline"-Projekte in anderen deutschen Universitätsstädten las. Schon länger suchte er etwas, für das er sich engagieren konnte. Die "Nightline"-Idee gefiel ihm sofort. Er informierte Freunde und zusammen nahmen sie das Projekt in die Hand. Wenige Wochen später konstituierte sich Münsters erste "Nightline" in einer konspirativen Sitzung.

Anonymität, das war allen Teilnehmern klar, hatte von Anfang an höchste Priorität. Ihre richtigen Namen wollen die "Nightliner" nicht in der Zeitung lesen. Auch ihr Treffpunkt bleibt geheim. "Selbstschutz", erklärt der 22-jährige Christian, und Gründer Stefan fügt hinzu: "Auf beiden Seiten sinkt die Schwelle, über Probleme zu reden." Keine Frage: Wer will schon dem entfernt bekannten Sitznachbarn aus der Germanistik-Vorlesung den Zoff mit der Freundin anvertrauen? Deshalb bleiben die Gruppenmitglieder am Telefon anonym.

Erfahrungen der Heidelberger "Nightline"-Aktivisten zeigen allerdings, dass in der Leitung auch die eigene Stimme verräterisch sein kann. "Ab und an ist es vorgekommen, dass jemand am anderen Ende die ‚Nightliner’ erkannt hat und umgekehrt – eine unangenehme Situation", beschreibt Stefan. Wie der Berater darauf reagiert, bleibt ihm überlassen. In Schulungen bekommen die Mitarbeiter eigenverantwortliches Handeln und grundlegende Kenntnisse im Umgang mit Anrufern vermittelt. Offenheit kann vorteilhafter sein, als zu verschweigen, dass man den Anrufer kennt.

Doch bis zu den ersten Gesprächen ist es für die Münsteraner noch ein weiter Weg: Sie suchen zunächst nach Psychologen, die sie einmal pro Semester in Gesprächsführung schulen – möglichst ehrenamtlich und ohne großen finanziellen Aufwand. Um einen Experten und das Equipment bezahlen zu können, hat Psychologiestudentin Judith eine Arbeitsgruppe für Fundraising gegründet. Medizinstudent Christian kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit.
Angst vor der Herausforderung haben sie nicht. Das Hauptgeschäft besteht bei ihren süddeutschen Kommilitonen aus Anrufern, die umgezogen sind und sich einsam fühlen, in der Uni Stress oder Liebeskummer haben. Im Schnitt erreichen sie drei bis vier Anrufe in der freigeschalteten Zeit zwischen 21 und zwei Uhr. "Wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe bieten", schließt Stefan. "Tipps können wir nicht geben, wir hören nur zu."

Warum wollen sie das tun, sich für die Probleme Fremder ihre Nächte um die Ohren schlagen? Psychologiestudentin Judith hofft, durch die "Nightline" selbst Beratungserfahrung zu sammeln. "Außerdem reizte es mich, ein neues Projekt von Anfang an mit zu gestalten." Gründer Stefan hat früher in Jugendgruppen mitgearbeitet und suchte nach einem entsprechenden Betätigungsfeld in Münster. "Da hat man mit Menschen zu tun", begründet er seine Faszination am nächtlichen Telefonieren.

So unterschiedlich die Beweggründe der Mitglieder erscheinen, so verschieden sind auch die Fächer, die sie studieren. Aus dem Rahmen fällt Informatiker Konrad. "Warum sind Naturwissenschaftler eigentlich immer als unsozial verschrien?", fragt er. Auch er engagierte sich während seiner Jugend in kirchlichen Gruppen und sucht jetzt nach einem Ausgleich zum Studium. Neben seinem beraterischen Know-How sind vor allem seine HTML-Kenntnisse für die "Nightline" gefragt. Christian frotzelt: "Eigentlich ist er der Einzige von uns, der nicht ersetzbar ist."

jri

Nightline ist unter info@nightline-muenster.de erreichbar