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Abschied mal vierzehn

Prof. Siegfried J. Schmidt analysiert die Sprache und spielt mit ihr


Manchmal Angst vor der nächsten Zeile hat selbst Prof. Siegfried J. Schmidt.

   Foto: Peter Grewer


"Eigentlich wollte ich Jazzmusiker werden, danach Maler. Mit 20 Jahren habe ich mich schließlich für ein Studium entschieden", sagt Prof. Siegfried J. Schmidt und verschweigt nicht, dass sein Vater bei dieser Entscheidung nachgeholfen hat. Und zwar tatkräftig: "Als ich ihm erzählte, dass ich meine Bewerbungsmappe für die Düsseldorfer Kunst-Akademie bereits fertig habe, versetzte er mir eine schallende Ohrfeige." Einen väterlichen Rat gab’s zu dieser stürmischen Reaktion ungefragt dazu: "Junge, mach’ was Vernünftiges, werde Beamter."

Was tun? Siegfried Johannes schwenkt um und  studiert die Fächer Philosophie, Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Linguistik,  zunächst an der Universität in Freiburg, später in Göttingen und Münster. Das Ende vom Lied und der Karriere als Maler: Mit 28 Jahren habilitiert sich Schmidt in Karlsruhe für Philosophie, drei Jahre später folgt der Ruf an den Lehrstuhl für Texttheorie nach Bielefeld. Da Professor Schmidt zu Kopfschmerzen neigt und das Klima in Bielefeld nicht das beste ist, zieht er mit Frau und Tochter nach Münster, dort leben seine Schwiegereltern. Fortan fährt er Woche für Woche von Münster zunächst nach Bielefeld, später nach Siegen, wo er das Institut für empirische Literatur- und Medienforschung gründet.

Achtzehn Jahre pendeln zwischen Siegen und Münster: "Der Ruf an das heutige Institut für Kommunikationswissenschaft war wie eine Erlösung", sagt Prof. Schmidt. Hinter ihm liegen Stunden im Zug, die er irgendwann aufgehört hat zu zählen. Aber Literarisches ist aus der Regionalverbindung Münster-Siegen geworden: "Einsal oder die Stammrolle". Einsal heißt ein klitzekleiner Bahnhof in der Nähe von Altena im Sauerland. Ein grauer Ort mit einem poetischen Namen, wie Schmidt findet. "Einsal bewegt sich zwischen einsam und Schicksal. Das hat mich fasziniert." Was daraus wird? Ein Buch, in dem Schmidt von Reisen nach Portugal, Japan und eben nach Siegen erzählt. "Ich liebe es, mich mit Sprache zu beschäftigen. Und ich liebe es, zu reisen." So entstehen wilde Geschichten, die keine sind und sich um Wörter oder um bestimmte Formulierungen drehen, die Schmidt begeistern und die er früher oder später niederschreibt.

"Wild. Das ist eigentlich eine passende Beschreibung", sagt der Literaturtheoretiker. Aber begibt er sich, indem er als Wissenschaftler Literarisches verfasst, nicht aufs Glatteis? Zumal er jahrelang Verfechter des Konstruktivismus war, der – kurz gefasst – besagt, dass nichts so beschrieben werden kann, wie es wirklich ist. "Aus diesem Grund erzähle ich keine herkömmlichen Geschichten. Ich spiele mit der Sprache, reduziere Worte auf ihre Bestandteile. Die Wissenschaft und die Literatur sind unterschiedliche Systeme. Es geht nicht darum, dass ich meine Tätigkeit spalten muss. Ganz im Gegenteil arbeite ich viel parallel."

Nun befindet sich auf dem Holzweg, wer denkt, dass der 65-Jährige seinen Beruf mit seinem Hobby mit seinem Alltag vermengt. "Ich sitze nicht mit meiner Frau beim Abendbrot und diskutiere über Moral." Auch dann nicht, wenn er sich wissenschaftlich oder literarisch gerade mit diesem Thema beschäftigt. Und zum Beispiel mit der Frage, ob Moral wahr, wahrhaftig, redlich, aufrichtig, fromm, vollkommen oder golden ist. "Es kommt mir darauf an, dass die Leser sich ihre eigenen Gedanken machen. Über Sätze wie: ,Alles hängt mit vielem zusammen’ kann man stundenlang nachdenken, wenn man sich die Zeit dafür nimmt."

Die Ideen kommen Siegfried Schmidt nur selten im Vorbeigehen, denn "das Texten bedarf einer intensiven Vorbereitung". Kann auch heißen: Bei einem Spaziergang, beim Lesen, bei der Beschäftigung mit einer Sache entwickelt sich ein Projekt in seinem Kopf, das er anschließend dreht und wendet und analysiert und portioniert. "Irgendwann ist mir aufgefallen, dass Grammatik mit Gram beginnt. Nun will ich aber nicht darüber lamentieren, wie viel Gram die Grammatik meinen Studenten und mir selbst bereitet hat." Stattdessen geht Schmidt das Wort im Sinne der generativen Grammatik an. Zerpflückt es in seine Einzelteile, ordnet die Buchstaben übereinander statt nebeneinander an. "Ich benötige dafür absolute Konzentration. Manchmal sitze ich fünf Stunden ununterbrochen am Schreibtisch." Dabei hat selbst ein Vielschreiber wie Schmidt mitunter Angst vor der nächsten Zeile: "Das Schreiben ist für mich Vollzug meiner persönlichen Identität. Der Gedanke daran, eines Tages nicht mehr schreiben zu können, ist für mich absolut quälend."

Seine letzten Bücher hat Schmidt allesamt in der namibischen Wüste geschrieben. Auch seine Abschiedsvorlesung, die sich über vierzehn Wochen zieht, genauer gesagt bis zum Ende des Semesters. Thema: Lehren der Kontingenz, ein Lieblingsthema von Schmidt: "Könnte man die Menschen zu mehr Kontingenzbewusstsein erziehen, würden sie toleranter." Denn das sei schließlich das Wichtigste: sich klarzumachen, das alles auch anders sein könnte.

Ob Schmidt froh ist, wenn er die letzte Vorlesung gehalten hat? "Ein zweischneidiges Schwert. Ich freue mich, aus dem Verwaltungskram heraus zu kommen und aus den Sitzungs-Zwängen. Aber die Studierenden werde ich vermissen, von ihnen habe ich immer viele Anregungen bekommen." Im Ruhestand will er endlich wieder mehr malen, sich um seine Enkelkinder Jonas und Linus kümmern, mit seiner Frau und Freunden durch die Dolomiten wandern – und schreiben.

    cb