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Freundlich, motiviert und leistungsbereit

Rund 80 Jugendliche studieren neben der Schule bereits an der Uni



Erfolgreiches Doppelleben: Aaron Voloj Dessauer hat zeitgleich mit dem Abitur seine Zwischenprüfung an der Uni gemacht.

Fotos (2): CR


Irgendwann, bei einer Geburtstagsfeier, hörte Aaron Voloj Dessauer, wie jemand erwähnte, Schüler könnten sich Vorlesungen an der Uni anhören und Scheine machen. 16 Jahre alt war er damals, ging ins Schlaun-Gymnasium und hatte neben Literatur und Basketball besonderes Interesse für Philosophie. Auch wenn seine Lehrer ihm ein Studium damals nicht zutrauten, Dessauer wollte Hörsaal-Luft von innen schnuppern und meldete sich an der Uni Münster an.

Aaron Voloj Dessauer, dunkelhaarig, ist heute 19 und momentan recht zufrieden. Er hat seine Magisterurkunde in Philosophie, Soziologie und evangelischer Theologie und promoviert bei Professor Alan Dershowitz, einem renommierten amerikanischen Strafrechtler und Anwalt, der bereits seine Magisterarbeit über "Moralische Dilemmata" betreut hatte. Zu Forschungszwecken hält sich der Stipendiat die meiste Zeit in Harvard auf und ist inzwischen auf Rechtswissenschaften umgeschwenkt. Eigentlich wollte er immer schon Jura studieren, um später sein Geld als Strafverteidiger zu verdienen. Für ein paar Tage war Voloj Dessauer jetzt in Deutschland. Am Abend vor dem Rückflug schaut er im Büro von Heribert Woestmann vorbei, der ihn als Juniorstudenten betreute. Auch jetzt bleiben die beiden in Kontakt.

Bald vier Jahre ist es her, dass das Juniorstudium in Münster eingeführt wurde. 80 Frühstudenten gibt es hier, über Deutschland verteilt sind es 1000. Regulär eingeschrieben sind sie nicht, daher müssen keine Studienbeiträge bezahlt werden, sie erhalten aber auch kein Semesterticket. Die Scheine können später aufs Studium angerechnet werden. Woestmann lobt seine Juniorstudenten, weil sie freundlich, leistungsbereit und motiviert seien. Der eine will schnell das Diplom haben, der andere hat kein Latein in der Schule und braucht es fürs Medizinstudium, der Dritte sucht sich einfach das aus, was ihn interessiert.

Der 17-jährige Ferdinand Schulz studiert Mathe. Sein Talent für Zahlen machte sich früh bemerkbar. Als Siebenjähriger schnappte er den Begriff "Plutonium-Affäre" auf. Seine Mutter, eine Flugzeugbau-Ingenieurin, erklärte es ihm und half ihm auch, als er in der zweiten Klasse Bruchrechnen lernen wollte. Auf Beschluss der Lehrerkonferenz durfte er nach der siebten gleich in die zehnte Klasse des Ratsgymnasiums in Osnabrück, schrieb mit 15 Abi und studierte parallel. Erst in Osnabrück, jetzt in Münster. "Ich wollte mal was Anderes sehen", erklärt er und sagt ehrlich: "Ich will weiterkommen." Das Vordiplom hat er bereits, das Diplom soll schnell folgen. Professor will er werden. „Mein Wissen soll aber nicht an der Uni verstauben, sondern auch der Industrie nutzen.“

Mit diesem Wunsch könnte er gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, denn die Unternehmen halten zunehmend Ausschau nach Talenten. So gibt die Telekom-Stiftung eine Finanzspritze für Schüler-Universitäten. Das Konzept in Münster kann sich sehen lassen. Kinder und Jugendliche sollen früh mit der Hochschule vertraut gemacht werden. Bei der Kinder-Uni sitzen Dreikäsehochs im Lehrsaal. Bei den Forscherwerkstätten kommen Lehramts-Studenten in die Grundschul-Klassen zum Experimentieren.

Die Juniorstudenten suchen die Hochschulen in Absprache mit den Gymnasien selbst aus. Natürlich werden nur Schüler genommen, die Leistung bringen und der Doppelbelastung gewachsen sind. Aber auch Schüler, die sonst nicht so gut sind, aber in einem Fach besonders begabt sind, bekommen ihre Chance. Woestmann ist stolz auf die niedrige Durchfallquote von unter zehn Prozent. An einer anderen Hochschule in NRW liege sie bei 45 Prozent.

„Unsere Schüler verkraften das gut. Bisher hat es nur selten gehapert“, beobachtet Bärbel Dahlhaus, Lehrerin am Annette-Gymnasium. Mit ihrer Kollegin Helga Möllenbrink berät sie in diesem Semester acht Juniorstudenten, die nebenher studieren. Zusätzlich steht für jedes Fach ein Ansprechpartner zur Verfügung. Das Projekt für leistungsstarke Schüler, wie es Dahlhaus nennt, ist beschränkt auf die Kollegstufe. Das Kurssystem ist flexibler, die Schüler können in ihren Freistunden Vorlesungen besuchen. Teils werden sie vom Unterricht freigestellt. Der versäumte Stoff wird in der Freizeit nachgeholt. Dass einige Schüler nebenher studieren, ist an der Schule so normal wie Chinesisch als Abi-Fach.

Drei Stunden Fahrt für die Vorlesungen

"Die meisten sind neugierig und wollen wissen, wie es an der Uni ist", weiß Christina Brauner. Sie ist 16 Jahre alt, Schülerin der K12 des Heisenberg-Gymnasiums in Gladbeck, hat Englisch-LK, spielt einmal die Woche Badminton, liest gerne Krimis und Gedichte, begeistert sich seit der Grundschule für Geschichte und studiert das Fach nebenbei. Im Herbst war die Freude riesig.



Große Ehre: Christina Brauner wurde von Bundespräsident Horst Köhler ausgezeichnet.


Da gewann sie einen ersten Preis im Geschichts-Wettbewerb der Körber-Stiftung. Ein paar Monate hatte sie sich intensiv mit dem Strukturwandel in Gladbeck nach dem Ende der Zechenzeit aus der Perspektive der Arbeiter beschäftigt. "Ich habe zum dritten Mal mitgemacht und bin jedes Mal wieder begeistert – vom eigenständigen Forschen, dem Gefühl, etwas herauszufinden, was vielleicht noch niemand weiß, der Begegnung mit Zeitzeugen. Ein Gespräch hat mich schwer beeindruckt. Es ging um einen einfachen Bergmann, der sich immer weiter gebildet hat und beruflich aufgestiegen ist."

An zwei Tagen in der Woche ist sie an der Uni. Referat, Theater-Broschüre, zwei Klausuren und eine Hausarbeit: Die vergangene Woche hatte es in sich. Heute hatte sie in der Schule eine Theater-Probe außer der Reihe, Philosophie und Englisch. Gegen neun Uhr ist sie in den Zug gestiegen, gut eineinhalb Stunden hat die Fahrt gedauert. Essen wäre näher, das scheitert aber am Geschichts-Angebot. Eine Wohnung ist auch keine Lösung: "Kochen kann ich, einen Staubsauger bedienen auch. Aber das ist auch ein Kostenfaktor und ich möchte in Gladbeck Abi machen. Eigentlich ist die Strecke an einem Tag zu bewältigen." Abends holt sie meistens ihr Vater mit dem Auto ab, damit sie nicht eine halbe Stunde in Haltern auf den Anschlusszug warten muss. Unterm Strich kommt Christina mit ihrem Doppelleben klar und ist optimistisch, dass sie durchhält. Ein paar Scheine hat sie bereits, nächstes Jahr will sie Zwischenprüfung machen. Irgendwann will sie ein Semester im Ausland, am liebsten in England, verbringen. Nach ihrem Abschluss hätte sie gerne einen Job als Historikerin.

Wie viele der Juniorstudenten sind hochbegabt? Wie sind sie aufgewachsen? In welchen Jobs landen sie? Statistische Daten gibt es dazu kaum. Vielleicht liegt es daran, dass viele keinen Test machen, sich besondere Begabungen nicht pauschal messen lassen und es das Juniorstudium noch nicht lange genug gibt. Nimmt man einen IQ ab 130 als Kriterium, sind etwa 2,5 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs hochbegabt. Dies entspricht deutschlandweit ungefähr einer Zahl von 300.000 Schülern. Gemessen an ihrem IQ seien Lebensläufe Hochbegabter laut einer Studie von Lewis Terman auch weitaus unspektakulärer als zunächst angenommen, weil neben der Begabung immer auch Umwelteinflüsse eine wichtige Rolle für die Leistungsentwicklung spielen, sagt Dr. Christian Fischer, Geschäftsführer des Internationalen Centrums für Begabungsforschung. Daher könne man davon ausgehen, dass Hochbegabte verstärkt in bildungsnäheren Elternhäusern aufwachsen.

Toleranz der Eltern die größte Förderung

Für Aaron Voloj Dessauer war die Toleranz seiner Eltern die größte Förderung: "Wenn es dich interessiert, mach’ es, haben sie mir gesagt." Die Studienzeit sei eine seiner besten Erfahrungen gewesen. Hausarbeiten, Referate, Mensa-Treffen, Kneipenbesuche in Rick’s Café. Natürlich hätte er gerne mehr Zeit mit Freunden verbracht. Zwölf Seminare pro Woche hatte er manchmal, 24 Scheine in drei Semestern gemacht. Als er Latein nachholen musste, ist er beim ersten Kurs durchgefallen. Obwohl Aaron Voloj Dessauer all seine Uniprüfungen mit fast perfekten Noten abschloss, hatte er keine guten Noten in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Faechern im Abitur. Damit könne er gut leben, sagt Voloj Dessauer. Denn fast alles, von VWL bis Altgriechisch, könnte er sich vorstellen. Nur ein naturwissenschaftliches Studium wäre ihm nicht im Traum eingefallen.

In Harvard fühlt er sich wohl, rührt kräftig die Werbetrommel für Münster, das er ab und zu vermisst. In dieser Stadt ist er groß geworden, Familie und Freunde leben hier. Es ist 19 Uhr geworden. Dessauer zieht seinen modischen Mantel an und nimmt seinen Rucksack. Er muss schnell los, seine Großmutter besuchen. Morgen geht es zurück in die Staaten.

cr