Ein Medikament ohne Nebenwirkungen
![]() |
Nicht zum Fürchten ist der böse Räuber Antek Pistole. Thomas Fiebig bringt die Kinder eher zum Lachen. So können sie die Sorgen einen Moment vergessen. Foto: Peter Grewer |
Heute spielt das Theater "1+1" eine Räubergeschichte von Janosch. Die geht so: Im Land Margarinien lebte in einem Dorf hinter den Wäldern ein Mann mit dem Namen Antek Pistole. Der war Besenbinder. Aber irgendwann läuft der Verkauf nicht mehr und Antek beschließt. "Ich werde Räuber. Wer Pistole heißt, muss ein Räuber sein ..." Antek Pistole alias Thomas Fiebig zieht eine grüne Jacke an und hopst auf einer Holzziege davon. Kindertheater-Tag im Klinikum. Wie immer dienstags um 15.30 Uhr, 52 Mal im Jahr.
Das ist nur eines von vielen kulturellen Angeboten. Im Februar 1993 fiel der Startschuss für "Kultur imPulse". So heißt das Programm gegen die Nebenwirkungen eines Krankenhaus-Aufenthalts. "Wir müssen uns selbstverständlich um die kranken Seiten der Patienten kümmern, dürfen aber nicht zulassen, dass gesunde Teile krank werden", formulierte damals der Kaufmännische Direktor des Universitäts-Klinikums, Manfred Gotthardt, die Idee zu dieser Initiative. Für den auf ein, zwei Jahre angelegten Modellversuch wurde eigens ein Kulturreferat eingerichtet. Christian Heeck ist seit der ersten Stunde der Mann für Kultur, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit im Haus. Heute sitzt mit Diana Nordhaus eine engagierte Mitarbeiterin mit im Boot. "Ich war damals Freiberufler und hatte zusammen mit Kollegen das Institut für Kunst, Kultur und Gesundheit – "ars vivendi" – gegründet. Dann schickte mir jemand die Ausschreibung. Ich fand das spannend und wollte wissen, ob man ein Kulturprojekt in einer solchen Klinik verwirklichen kann. Gleich im ersten Jahr haben wir einen Förderpreis von 50.000 Mark bekommen und eine gute Plattform für verschiedene Konzepte, Projekte und Entwicklungen vorgefunden", erzählt er stolz.
Einen Moment lang die Schmerzen vergessen
Drei Punkte führt Heeck an, die das Besondere von "Kultur imPulse im Krankenhaus" ausmachen. Die Veranstaltungen durchbrechen die Routine, sind mehr als Unterhaltung und Ablenkung und gehören selbstverständlich zum Haus. Patienten werden durch Theater, Kunstausstellungen oder Konzerte aus der Isolierung geholt, vergessen für einen Moment Chemotherapie und Schmerzen, und schöpfen wieder Mut. Heeck erinnert sich gut an eine schwer krebskranke Frau, die sich auf Pfleger gestützt ein Konzert anhörte und hinterher sagte: "Ich hatte solche Angst vor der Untersuchung morgen, aber ich glaube, jetzt schaffe ich das."
Über die Patientenebene hinaus hat "Kultur imPulse" eine Öffnung des Krankenhauses bewirkt. Viele nehmen nach Auffassung von Heeck die Uniklinik nicht mehr als reine Krankenanstalt wahr, um die man lieber einen weiten Bogen macht. Vielmehr hat sich das Haus als kultureller Veranstaltungsort wie jeder andere auch etabliert. "Natürlich wollte ich früher auch Krankenhäuser meiden. Deswegen sind Kindernachmittage oder Jazz-Konzerte ein Königsweg, um Menschen von außerhalb zu locken. Manchmal sind das über die Hälfte der Besucher", sagt Heeck. "Und", fährt er fort, "Kultur im Krankenhaus ist auch sehr schnell der Aufhänger für Kultur des Krankenhauses gewesen."
Zur Hälfte aus Spenden finanziert
Was zunächst als Experiment begann, möchte heute keiner mehr missen. Kultur im Krankenhaus ist (fast) überall und garantiert ein Medikament ohne Nebenwirkungen. In einem Flur auf Ebene 05 im Westturm hängt ein Hingucker: eine große Collage aus unzähligen leeren Tablettenverpackungen. Originell ist das leuchtend blaue Bild zum Auf- und Zuklappen. Studenten von der FH für Sozialwesen haben in einem Semester-Projekt spezielle Spielgeräte für Kinder im Krankenhaus gebaut und eine Burg auf dem Flur montiert, auf der man nicht toben, in die man aber hineinfassen kann. In knapp vier Wochen zieht die neueste Errungenschaft ein – ein original knallrotes Feuerwehrauto. "Das stellen wir dann auf die Ebene 04. Für uns ist das Krankenhaus wie ein Wohnzimmer", sagt Heeck. Viel ist in den vergangenen zwölf Jahren auf den Weg gebracht worden. 500 kunterbunte Kultur-Veranstaltungen gibt es pro Jahr. Eine Ausstellung zu Matisse und Picasso etwa, ein Klavierkonzert zur Entspannung oder ein Singkreis in der HNO-Abteilung. Alle zwei Monate liegt das neue Programm aus. Plakate in blauen Glaskästen weisen auf Veranstaltungen hin. "Kultur imPulse im Krankenhaus" hat auch einen Austausch mit anderen Kliniken zu bieten. Die Projekte werden teilweise wissenschaftlich begleitet – von "Tanz im Rahmen der Rückenschule" bis hin zu "Humor am Krankenbett".
Mit einem bescheidenen Etat von 20.000 Mark fing man 1993 an, inzwischen können 120.000 Euro pro Jahr für kulturelle Zwecke ausgegeben werden. Die Hälfte davon sind Spenden. "Wir vergolden jeden Euro und jedes dieser Geldstücke blinkt als leuchtender Stern in diesem Haus", sagt Heeck, bekennt sich als berufsmäßiger Optimist und ist zuversichtlich, dass die Budgetierungsfalle im Bereich Kultur nicht zuschnappt. "Wir sind hier eine gut eingeführte Service-Einrichtung." Das Schönste für ihn: einen Beruf zu haben, in dem er Sinn stiften darf.
![]() | |
Ein eingespieltes Team sind die Klinik-Clowns, die jeden Mittwoch ihre Visiste halten. Foto: Conny Rist |
Momente wie der bei der Aufführung des Theaters "1+1" sind für ihn unbezahlbar. "Es haut einen um, wenn ein sechsjähriges Kind, das seine Eltern bei einem Unfall verloren und seitdem kein Wort mehr gesprochen hat, zu einer Aufführung kommt, und man sieht, wie das Kind allmählich anfängt zu lachen. Dann brauche ich eine Sonnenbrille, da kommen mir die Tränen." "Antek Pistole" hat nach gut 50 Minuten erst mal Feierabend und darf mit viel Applaus im Gepäck nach Hause.
Einen Tag später halten die Klinik-Clowns Visite. Wie jeden Mittwoch. Sieben ausgebildete Schauspieler, Clowns, Musiker und Pantomime tauschen regelmäßig die Bühne mit dem Krankenzimmer, setzen knallrote Nasen auf, ziehen ulkige Klamotten an und besuchen die Kinder. Erwachsene Männer und Frauen warten um 8.30 Uhr in der Ambulanz auf ihre Untersuchung, Ärzte huschen den Flur entlang. Professor Spagetti alias Christoph Gilsbach, Harry und Lollo alias Marcell Kaiser und Irmhild Willenbrink machen sich fertig für ihren Gang durch die Krankenzimmer.
Christoph Gilsbach hatte mit sechs Jahren Premiere als Patient im Krankenhaus und viel Lampenfieber, als er im Krankenwagen in die Klinik kam und eine akute Augenverletzung behandelt werden musste. Heute ist er froh, als Klinik-Clown arbeiten zu dürfen. „Es ist anders als auf der Bühne“, sagt der Zauberer und Pantomime. "Im Theater hast du 200 Leute vor dir und ein großes Tamtam. Hier ist alles viel persönlicher und auf du und du." Die bunt gekleideten und stark geschminkten Clowns sorgen für kostbare Momente im Klinik-Alltag, entlocken Kindern, die erst keinen Mucks sagen, ein Lächeln, und machen für einen Moment ihre Schmerzen und die nächste OP vergessen. Manchmal müssen die Klinik-Clowns auch erst gegen eine Wand laufen. Gilsbach reagiert darauf gelassen: "Wenn wir merken, das Kind will nicht, dann gehen wir wieder. Das ist okay, die kleinen Patienten geben den Takt vor."
Kleine Wunder geschehen immer wieder, wie dieses: Seit vielen Jahren
sind die Clinic-Clowns regelmäßig auf der Dialyse-Station unterwegs.
Dort wird ein Jungen behandelt, der drei Jahre lang immer sofort
schrie, sobald er eine rote Pappnase sah, und dem die Haare dabei zu
Berge standen. "Eines Tages guckte er mal um die Ecke und ist seitdem
unser größter Fan. Das war ein unglaublicher Sieg. Du wirst abgelehnt
und plötzlich hast du den dicksten Freund", sagt Gilsbach.
Conni Rist

