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Der Kreis hat sich geschlossen

Mit 69 Jahren den Magister Artium gemacht



Immer weiter geht es für Horsthemke an der Uni, die nun über kubistische Lyrik promovieren will.


Mit freudestrahlenden Augen und einer angemessenen Portion Stolz erzählt Maria Horsthemke vom Abschluss ihres Magisterstudiums im vergangenen Sommersemester. Für ihre Magisterarbeit mit dem Titel "Zweideutigkeit als System – Kubistische Prinzipien in Thomas Manns 'Doktor Faustus' " erhielt die Komparatistik-Studentin eine Bewertung im Einserbereich. Ihre mündlichen Prüfungen absolvierte sie zu ihren Lieblingsthemen: Deutsche Romantik und Literatur der Jahrhundertwende. In der Germanistik beschäftigte sie sich dabei vor allem mit E.T.A. Hoffmann und Thomas Mann, in der Anglistik mit Faulkner, Joyce, Wilde und Woolf. Ihr Studium schloss sie mit einem Notenschnitt von 1,3 ab. Alles in allem kein ungewöhnliches Ergebnis für eine engagierte Studentin. Ungewöhnlich ist hingegen, dass Maria Horsthemke bereits 69 Jahre alt ist.

Während ihre Altersgenossen im wohlverdienten Ruhestand diversen Hobbys nachgehen, verreisen oder eventuell ein "Studium im Alter" absolvieren, hat sich Horsthemke vor sechs Jahren ganz bewusst für ein reguläres Magisterstudium an der WWU mitsamt allen Konsequenzen entschieden. "Das Magisterstudium hat für mich besonderen Ereignischarakter", erklärt sie. "Das ist für die jungen Leute von heute, die sich ihre Schule praktisch aussuchen können, wohl nicht mehr nachvollziehbar."

Als Tochter eines kleinen Landwirts war ihr zunächst ein anderer Lebensweg vorherbestimmt. Zwar war sie in ihrer Schulzeit in einer Landschule eine gute Schülerin, aber eine Aussicht auf den Besuch einer weiter führenden Schule gab es für sie nicht. Ihre einzige Perspektive war eine Ausbildung in Hauswirtschaftslehre und anschließend eine Stelle als Wirtschafterin. Nach einer kurzen Zeit in einem Haushalt, wo sie sich unglücklich fühlte, ergab sich dann unerwartet die Chance, mit 14 Jahren als eines der ersten Mädchen eine Aufbau-Klasse des Gymnasiums Laurentianum in Warendorf zu besuchen. "Ich war glücklich, dass ich lernen durfte, vor allem weil Mädchen dort genauso ernst genommen wurden wie Jungen", erinnert sie sich. "Es war für mich unbedingt notwendig, gute Zeugnisse zu haben, damit ich ein Stipendium bekam, denn meine Eltern hätten das Schulgeld nicht bezahlen können." Gymnasium in Warendorf, das bedeutete daneben täglich einen Schulweg von acht Kilometern, bei jedem Wind und Wetter, und es bedeutete auch weiter mithilfe bei der Arbeit auf dem Lande. Dem Abitur 1957 folgte eine  fünfsemestrige Ausbildung zur Lehrerin mit anschließender Referendariatszeit und dem zweiten Staatsexamen an einer Landschule in Werne an der Lippe. Nach der Auflösung der Landschulen absolvierte die Lehrerin in Dortmund den Aufbaustudiengang Sonderpädagogik und wechselte in den sechziger Jahren an eine Sonderschule. Aus gesundheitlichen und privaten Gründen entschied sie sich Ende der 80er Jahre, aus dem Schuldienst auszuscheiden. "Ich dachte mir, wenn du mit 50 aufhörst, fängst du vielleicht noch mal etwas Neues an, wenn du mit 65 aufhörst, bist du nur noch alt und machst irgendein Hobby, aber nichts Wirkliches mehr", schildert Horsthemke ihren damaligen Gedankengang. "Dass sich das aber in dieser Form bewahrheiten würde, habe ich damals nicht geglaubt."

Um einen Ort zu haben, wo sie sich zeitlich aufgehoben und geistig beschäftigt fühlte, suchte die damalige Frührentnerin schnell den Kontakt zur Universität. In ihrer Sonderschulzeit hatte sie sich nebenher die französische Sprache angeeignet und besuchte nun Übersetzungs- und Textinterpretationskurse des Romanistischen Instituts. Vor einem Seminarraum sei dann eines Tages der eigentliche Startschuss für ihr spätes Magisterstudium gefallen, erzählt Maria Horsthemke. Ein junger Mann sei gekommen und habe mitgeteilt, dass das Seminar ausfalle, er aber selbst ein anderes Seminar in einem neuen Studienfach namens Komparatistik anböte. Es stellte sich heraus, dass dieser junge Mann der Leiter des Instituts für Komparatistik Prof. Achim Hölter war. "Also schrieb ich mich im Sommersemester 1999 für die Fächer Komparatistik, Germanistik und Anglistik als ordentliche Magisterstudierende ein und nahm am ersten Komparatistikseminar von Prof. Hölter teil."



Unkompliziert und kollegial ist das Verhältnis von Maria Horsthemke zu ihren jüngeren Kommilitoninnen in Semiaren und Vorlesungen.

Fotos (2): Björn Greif


Aufgrund ihres ausgeprägten Ehrgeizes, der sie bereits zur Schulzeit auszeichnete und der den Besuch des Gymnasiums überhaupt erst ermöglicht hatte, konnte sich Maria Horsthemke kein hobbymäßiges Studium im Alter, sondern nur ein forderndes Magisterstudium vorstellen. "Ich suchte die Herausforderung und wollte einen begründeten Anspruch auf objektive Bewertung haben", sagt die 69-Jährige heute. Wissenschaftliches Denken und kontroverse Diskussion erschienen ihr anfangs als Wagnis, das sie erst lernen musste. Inzwischen kann ein Denkweg ruhig auch ein bisschen abenteuerlich sein.

Kritische Äußerungen zu ihrer Entscheidung, in ihrem Alter noch ein Studium zu beginnen, kamen nicht etwa von den jüngeren Studierenden, sondern eher aus ihrem privaten Bekanntenkreis: Sie nehme den jungen Leuten den Studienplatz weg. Was wolle sie damit? Sie könne danach ja keinen Beruf mehr ergreifen. Sie werde von den anderen nur geduldet, hieß es. Die daraus resultierenden anfänglichen Bedenken, dass sie ausgegrenzt und von jüngeren Kommilitonen nicht akzeptiert würde, haben sich allerdings nie bestätigt. Im Gegenteil: "Ich habe während meines Studiums viele gute Freunde unter den jungen Leuten gefunden", sagt Horsthemke. Hölter benennt den Grund für diesen nicht gerade selbstverständlichen unproblematischen Umgang zwischen den Generationen: "Während andere ältere Studierende oft gerne unter sich bleiben, ist Frau Horsthemke bewusst sehr offen auf ihre Kommilitonen zugegangen. Außerdem neigt sie nicht dazu, aus ihrem Alter eine Autorität abzuleiten." So ist die 69-Jährige schnell mit ihren Kommilitonen per Du, verabredet sich mit ihnen auf einen Kaffee, ist einfach Teil der eingeschworenen Komparatistikgemeinschaft. "Die Komparatistik hat sich ganz eindeutig als mein Fach erwiesen", resümiert Maria Horsthemke. "Was in anderen Fachrichtungen nicht erlaubt ist, wie beispielsweise das Springen zwischen einzelnen Epochen oder Sprachen, wird in der Komparatistik gefordert." Hölter sieht das genauso und lobt seine langjährige Studentin: "Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Zusammenhänge herstellen und über den Tellerrand hinaus schauen kann. Ihre besondere Stärke liegt in dieser Art der Transferleistung." Daher bedauert Maria Horsthemke auch den Umstand, dass die Komparatistik nicht als eigenständiges Institut bestehen konnte, sondern seit dem diesjährigen Sommersemester als Lehrstuhl für Komparatistik im Institut für Literaturwissenschaft in das Germanistische Institut eingegliedert wurde.

Rückblickend ist sie froh, die Möglichkeit erhalten zu haben, mit ihrem Studium nochmals an ihre Schulzeit anknüpfen und damit die ursprünglichen sozialen Grenzen ihrer Herkunft auf intellektueller Ebene überwinden zu können. "Durch das Studium habe ich einen ganz wichtigen zweiten Strang meines Lebens gewonnen", sagt die 69-Jährige sichtlich gerührt. "Manche Leute führen mit Familie und Beruf zwei Leben nebeneinander, ich habe es mit meinem Lehrerberuf und dem anschließenden Studium hintereinander gemacht." Für sie war ihr Studium eine wichtige Art der Ich-Findung: "Ich bin froh, dass ich für mich erlebt und von außen von anderen bestätigt bekommen habe: Das ist mein Weg, das bin ich."

In Zukunft will sie dieses Gefühl und das Wissen, das sie durch ihr Studium erhalten hat, gerne an andere weitergeben. Zum einen wird sie weiter in ihrem Wohnort Altenberge Hausaufgabenhilfe anbieten. "Damit die Kinder ihre eigenen Chancen wahrnehmen können", sagt sie. Zum anderen würde sie sich gerne den Wunschtraum erfüllen, als Gastdozentin des Lehrstuhls für Komparatistik jedes Semester eine Veranstaltung zum Bereich Lyrik anzubieten. In den nächsten Jahren will sie sich aber erstmal weiter mit dem Kubismus in verschiedenen Kunstarten beschäftigen und im Rahmen ihrer Dissertation der Frage nachgehen, wie kubistische Literatur aussehen könne. Ihr Komparatistikprofessor ist sich sicher: "Frau Horsthemke hat noch viel Potenzial." Die Promotion mit 75 wäre doch eine runde Sache, meint sie selbst.

   bg