Mit achtungsvoller Ritterlichkeit
"Ein Hinstreben (…) der Damen zum Studium statt in die Ehe bedeutet (…) einen Nachteil für die künftigen Generationen, für den Staat überhaupt" – der Verfasser dieser Zeilen eines Leserbriefs in der Universitäts-Zeitung vom Dezember 1909 bleibt anonym. Margarete Moormann, zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren Gasthörerin an der Universität Münster, hätte angesichts dieser Zeilen eher müde gelächelt. Sie pfiff auf die ihr zugedachte Rolle als treusorgende Ehefrau und ging ihren eigenen Weg: raus aus einer gesellschaftlichen Stellung, in der die Frau nicht als eigenständiges Individuum wahrgenommen, sondern ausschließlich über den Mann definiert wurde.
Die Zulassung von Frauen zum Studium war das Verdienst der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich seit Mitte der 1860er Jahre für eine "erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts" einsetzte. Als erste deutschsprachige Hochschule ließ die Züricher Universität etwa 1870 Frauen zum Studium zu. In Münster, einer durch und durch preußischen Hochschule, dachte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Traum daran, Frauen den Zugang zu einem Hörsaal zu ermöglichen. Den Gegnern des Frauenstudiums war jedes Argument recht, um es gegen die Frauen ins Feld zu führen: Frauen seien aufgrund ihrer Natur schlicht unfähig, zu studieren. Ein geringeres Gehirngewicht, Monatsblutungen und Schwangerschaft würden sie wenig belastbar machen. Diese fadenscheinigen Begründungen konnten die Änderung des Immatrikulationsrechts zugunsten studierwilliger Frauen lediglich verzögern, aber nicht aufhalten.
Als Gasthörerinnen nahmen Frauen ab 1905 am wissenschaftlichen Leben zumindest punktuell teil. Bis 1908 genehmigte der damalige Rektor insgesamt 64 Gesuche von Frauen zur Zulassung zur Hospitation – inklusive Wiederholungsanträgen. Bezeichnenderweise wurden diese Ersuche in der Regel von Vätern oder Ehemännern gestellt, die um die Erlaubnis für eine höhere Bildung für ihre Töchter oder Ehefrauen baten. Wie an anderen Universitäten kamen auch in Münster fast alle Gasthörerinnen aus dem Bildungs- und Besitzbürgertum. Bemerkenswert ist, dass im Wintersemester 1908/09 über 70 Prozent der Studentinnen Töchter oder Ehefrauen münsterscher Hochschullehrer waren. In seiner Eröffnungsansprache des Wintersemesters vom 20. Oktober 1908 bezeichnete Prof. Heinrich Erman, damaliger Rektor der Universität, den "diesjährigen Immatrikulationstermin" als "wichtigen Wendepunkt" in der Geschichte der preußischen Landesuniversitäten. Und: Er begrüßte ausdrücklich die Frauen unter den Studierenden! "Sehr geehrte Kommilitonen beiderlei Geschlechts (…)". Die von Verlustängsten gebeutelten Männer versucht Heinrich Erman mit aufmunternden Worten zu trösten: "Wie aber denken Sie (…) über den heutigen Wendepunkt? Daß Sie ihren Kommilitonen des schwächeren Geschlechts mit achtungsvoller Ritterlichkeit entgegentreten werden, halten wir für selbstverständlich. (…) ziehen Sie sich nicht in den Schmollwinkel zurück (…), sondern fördern Sie sie, unter entschlossener Opferung der eigenen, widerstrebenden Privatinteressen!"
Auf eine solche Solidarität warteten die ersten Frauen an Münsters Uni vergeblich. Ganz im Gegenteil spürten sie den Unmut über "lange Haare und kurzen Verstand". Hedwig Montag, 1910 eine von 25 Studentinnen unter 2000 männlichen Kommilitonen, erinnert sich an ihre ersten Tage so: „Außerdem war ich schnell wie ein Wiesel untergetaucht an einer Bankecke in Reichweite der Tür. (…) Ich hatte nämlich (…) gehört, daß der Ordinarius unsereins herauskomplimentieren ließ. Gegebenenfalls wollte ich freiwillig davonlaufen."
Im Gasthörerinnen-Verzeichnis von 1906/07 findet sich auch der Name von Margarete Moormann. Die in Werne geborene Tochter des Gutsbesitzers Rudolf Moormann und seiner Frau Antonia war eins von acht Kindern. Nach dem Schulbesuch in Werne und Aufenthalten in französischen und niederländischen Pensionaten, machte Margarete Moormann 1895 in Nijmegen ihr Examen als Sprachlehrerin. Wie viele Frauen erfüllte sie bis dahin genau die gesellschaftlichen Vorstellungen: Frauen seien zwischen Kochtöpfen und Kindern gut aufgehoben, bestenfalls aber als Lehrerinnen geeignet. Eine Qualifikation für die Lehrtätigkeit, zum Beispiel in Privathaushalten, konnten Frauen an den so genannten "Höheren Mädchenschulen" erwerben. Keinesfalls aber wurden sie zum Abitur zugelassen, denn das entsprach ganz und gar nicht der "Bestimmung des Weibes als Gattin, Hausfrau und Mutter". Margarete Moormann durchbrach diesen vorgeschrieben Lebenslauf: Sie bereitete sich in einem privaten Gymnasialkurs auf das Abitur vor, legte dasselbe 1905 ab und verfolgte unverdrossen ihr Berufsziel: Margarete Moormann wollte Ärztin werden. "Sie muss eine willensstarke, selbstbewusste und moderne Frau gewesen sein", vermutet Dr. Jochen Moormann, Großneffe von Margarete Moormann. "Sie hat ihren Mann gestanden."
Im Sommersemester 1907 absolvierte Margarete Moormann die ärztliche Vorprüfung an der Uni Münster. Gemeinsam mit ihrer Schwester Antonia, die Chemie studierte, wechselte sie nach München, wo sie ihr Staatsexamen machte und anschließend in der medizinischen Poliklinik ihr Praktisches Jahr ableistete. Als "Ärztin für Frauen und Kinder" ließ Margarete Moormann sich in Münster nieder, elf Jahre lang blieb sie die einzige Frau in der münsterschen Ärzteschaft. Dieser Enthusiasmus muss ansteckend gewesen sein: So entschied sich ihr Patenkind Margarete Saacke 1927 für ein Medizinstudium. In einer privaten Chemieschule, die Margarete Moormann zusammen mit ihrer ebenfalls promovierten Schwester Antonia an der Jüdefelder Straße gründete, bildeten die Moormann-Schwestern technische Assistentinnen aus. Nach eigenen Angaben waren Frauen für diese Berufe in medizinischen Instituten und Laboren "besonders geeignet". So setzte sich eine der ersten Studentinnen an Münsters Uni für die Qualifikation von Frauen ein. Margarete Moormann, die unverheiratet blieb, muss klar gewesen sein, dass nur so Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen erreicht werden konnte.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass der anfangs zitierte Leserbrief eine Reaktion hervorrief, und zwar von einem Mann. Dr. Alexander Berthold schrieb: "Eine nicht kleine Schar von Herren vertritt noch unbegreiflicherweise die rückständige Ansicht, daß das Weib ihren Wirkungskreis ausschließlich in den ihr von der Natur vorgeschriebenen Gebieten auszuüben habe. (…) Diese Vertreter des stärkeren Geschlechts verschließen sich blindlings der verständigen Meinung, dass es eine strenge Forderung der heutigen Zeit ist, der Frau dieselbe Stellung einzuräumen, die der Mann innehat."
Christiane Bernert