Realität entsteht erst durch Symbole
Historikerin erhält für Arbeiten zur frühen Neuzeit Leibniz-Preis
Wie ein Mensch sich kleidet, spricht, bewegt, ob er Turnschuhe trägt oder Krawatte, sagt einiges über ihn aus. Nicht nur über ihn als Individuum, auch über seine soziale Rolle und gesellschaftliche Stellung. Die Wahl der Mittel geschieht oft unbewusst, doch sind sie deswegen nicht weniger aussagekräftig in unserer von Schrift bestimmten Welt. Umso bedeutungsvoller waren Symbole für Gesellschaften, deren Kommunikation noch nicht in demselben Maße von Schrift abhängig war wie heute. Für die Untersuchung symbolischer Kommunikation und die Weiterentwicklung der theoretischen Ansätze wird Prof. Barbara Stollberg-Rilinger von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem höchstdotierten deutschen Wissenschaftspreis, dem Leibniz-Preis, ausgezeichnet. Die Historikerin erhält für die Dauer von fünf Jahren 1,55 Millionen Euro und ist damit die erste Frau an der Uni Münster, die diese bedeutende Auszeichnung erhält.„Ich habe nie damit gerechnet, den Leibniz-Preis zu erhalten“, sagt Stollberg-Rilinger noch immer völlig überwältigt. Sie ist die einzige Geisteswissenschaftlerin unter den insgesamt zehn Preisträgern – ein Umstand, der die Bedeutung ihrer Arbeit noch betont. „In den vergangenen Jahren war ich stark eingespannt unter anderem als Sprecherin des Sonderforschungsbereiches ,Symbolische Kommunikation’, jetzt werde ich endlich ein Projekt angehen können, das ich schon lange in der Schublade habe.“ Die „Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches als Symbolgeschichte“ will sie schreiben und damit Neuland betreten. „Bisher wurden Symbole immer als Zierat, als Ausschmückung verstanden. Doch die jüngste Forschung zeigt, dass Symbole die Realität konstituieren.“ In Gesellschaften, in denen nur wenige lesen konnten, war es wichtig, Rang, Stellung, soziale Parameter durch andere Zeichen deutlich zu machen. Das will Stollberg-Rilinger über einen Zeitraum verdeutlichen, der von 1500 bis 1800 reicht. „Anfangs- und Enddaten werden jeweils durch tief greifende Wandlungsprozesse bestimmt – zum einen durch die Reformation, zum anderen durch die französische und die industrielle Revolution“, erklärt Stollberg-Rilinger.
Die Reformation ist für Stollberg-Rilinger ein gutes Beispiel, wie Symbole Gesellschaften konstituieren: „Erst indem ich anders bete, die Sakramente anders feiere oder die Kirchen anders ausschmücke, unterscheide ich mich vom konfessionellen Gegner. Die Unterschiede werden erst dann existent, wenn man sie sehen kann. Und sehen kann man sie nur, wenn sie symbolisch ausgedrückt werden.“
In wieweit die Wahl von Symbolen bewusst geschah, ist noch Gegenstand von Diskussionen. „Früher hat man in der Forschung symbolische Akte wie etwa Rituale als magische Handlungen behandelt. Heute vermuten wir einen viel höheren Grad an Planbarkeit. Es gab immer wieder Momente, in denen Rituale und Symbole reflektiert und verändert wurden“ – so zum Beispiel in der Französischen Revolution, als sogar der Kalender vollkommen neu entworfen wurde. Das klingt sehr vertraut in den heutigen Zeiten, wurde doch beispielsweise nach der Wiedervereinigung lange über die gemeinsame Staatshymne diskutiert. Auch die neuen Staaten Osteuropas definieren sich zum Teil über ihre alten, neuen Staatssymbole. „Natürlich gibt es in der historischen Wissenschaft immer einen Bezug zur Gegenwart, denn wir stellen unsere Fragen an die Vergangenheit ja schließlich aus der Gegenwart heraus“, so Stollberg-Rilinger. Die Medienrevolution der vergangenen Jahre habe die Bedeutung von Symbolen wieder bewusster gemacht, denn die Schrift als allgemeine Zeichengrundlage werde zunehmend durch das Bild, das interpretiert werden müsse, abgelöst. „Dadurch wird auch die Wahrnehmung radikal geändert.“ Trotzdem hat Stollberg-Rilinger bei aller Aktualität die Vergangenheit im Blick: „Da gibt es noch viel zu tun.“ Dank des Leibniz-Preises ist es ihr jetzt möglich geworden, selbst wieder in Archiven zu forschen, Doktoranden einzustellen, die ihr zuarbeiten, um herauszufinden, wie die Menschen vor 500 Jahren ihre Welt sahen und welche Zeichen sie benutzten, um sich in ihr zurechtzufinden.
bn