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Die Äpfel duften nicht mehr

Emeritierte Komparatistin setzt sich für den Wiederaufbau der Anna-Amalia-Bibliothek ein


Weitgehend zerstört wurden die Bestände auf der oberen Galerie im Rokoko-Saal.

Foto: Peter Michaelis


Die Figur des Albertus auf dem versengten Blatt ist fast unversehrt, das Feuer hat sich sorgfältig um sie herumgefressen. Die Blätter, die die Begeisterung und intensive Beschäftigung der Weimarer Klassik mit den antiken Kulturen in detaillierten Zeichnungen griechischer und ägyptischer Statuetten und Wandzeichnungen beweisen, sind an den Rändern verkohlt. Während Prof. Lea Ritter-Santini, Emerita des Instituts für Komparatistik, sie vorsichtig wieder in die schützenden Seidenblätter hüllt, bröckeln einzelne schwarze Papierreste ab. In der Nacht vom 2. auf den 3. September wirbelten die Bücherseiten durch die Luft, als die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar brannte. Helfer sammelten pietätvoll die einzelnen Seiten von der Straße auf und retteten sie – vor dem Brand beredte Zeitzeugen aus der Blütezeit der deutschen Kultur, jetzt leblose Zeugnisse für die in dieser Nacht vernichtete umfangreiche Sammlung einer der bedeutendsten deutschen Bibliotheken.

„Viele Bände, Exemplare der antiken klassischen Literatur und antiquarische Studien, standen auf der obersten Empore des Rokoko-Saals“, erzählt Ritter-Santini, die Teile der italienischen Bestände der 1761 bis 1769 eingerichteten Bibliothek katalogisiert. Dort habe das Feuer mit am schlimmsten gewütet, dort sei neben der Musikaliensammlung der Herzogin Anna Amalia am meisten verloren gegangen. Darunter auch viele Bände ihres eigenen Forschungsgegenstands, denn gemäß der damaligen Systematik standen dort auch viele italienische Übersetzungen der antiken lateinischen Texte. „Wer kein Latein konnte, las eben italienisch“, betont Ritter-Santini die Bedeutung des südlichen Nachbarn für das Zentrum der damaligen deutschen Kultur. Goethe, der die Oberaufsicht über die Bibliothek übernommen hatte, Schiller, Herder, Wieland, die Herzogin Anna Amalia selbst, die die Bibliothek stiftete – für sie alle war Italien virtuelle Heimat und als Vorbild Spiegel der eigenen Kultur.

Deshalb ist die Arbeit der Italienerin Ritter-Santini, die jetzt so abrupt unterbrochen wurde, so wichtig für das Verständnis dieser Epoche. Welche italienischen Texte lasen Herder und Wieland? Wie lange hatte Goethe ein italienisches Werk ausgeliehen? Was ist noch vorhanden, was wurde verstellt, was verkauft, um zu DDR-Zeiten Devisen zu beschaffen? Was durch den Brand vernichtet wurde, lässt sich noch nicht sagen. 30000 Bände, so die erste Schätzung, sind verbrannt, 62000 durch Wasser und Feuer schwer beschädigt. Rund 67 Millionen Euro würde es kosten, annähernd den alten Zustand wieder herzustellen. Wie das geschehen soll, muss noch abgewartet werden. „Für jeden der 100000 Bände muss einzeln entschieden werden, ob er gänzlich zerstört ist, ob er restauriert werden kann, ob er wieder beschafft werden soll oder ob er nicht ersetzt wird“, so Ritter-Santini. 35000 Bände, die zerstört wurden, ließen sich vermutlich wieder beschaffen, 27000 Exemplare jener, die schwer beschädigt wurden, zu einem Durchschnittspreis von 800 Euro das Stück wiederherstellen.

Die Entscheidung darüber liegt allerdings noch in weiter Ferne. Denn die durch Feuer oder Löschwasser beschädigten Bände lagern derzeit in Leipzig in Gefrierkammern, in denen der Verfall aufgehalten wird, bis sie aufwändig restauriert werden können. Erst im Laufe des kommenden Jahres werden sie sukzessive nach Weimar zurückkehren. Trotzdem sucht Ritter-Santini in ihrer Heimat schon jetzt nach Ersatz, denn dort seien antiquarische Bücher günstiger als in Deutschland zu bekommen. Hilfreich ist natürlich ihr eigener Katalog, der als Grundlage den des Vulpius hatte, des Schwagers Goethes und in der Bibliothek sein Gehilfe. Vernichtet, so viel scheint schon jetzt klar zu sein, wurde die Übersetzung des Plinius durch den Dramatiker Victorio Alfieri, eigentlich ein in der damaligen Zeit moderner Text, in die Antikensammlung gestellt, weil er einen antiken Autor behandelte. Verloren sind auch die ersten Schriften von Galileo Galilei, denn im obersten Geschoss standen auch die Werke zur Astronomie. Deshalb fiel auch Graf Algarotti, in der Klassik einer der wichtigsten Mittler zwischen Deutschland und Italien, der versuchte, die Newton’schen Theorien „den Damen“ seiner Zeit nahezubringen, den Flammen zum Opfer. Der Lieblingsautor von Friedrich dem Großen war unter anderem als Berater beim Ankauf von Bildern italienischer Künstler für den Dresdner Hof tätig – der Zwinger zeugt noch heute von seinem Einsatz.

Diese Beziehungsgeflechte deutlich und damit Geschichte lebendig zu machen, ist Ritter-Santinis maßgeblicher Antrieb. Längst hätte sie sich in den offiziellen Ruhestand zurückziehen können, doch nun geht sie die Signaturen des italienischen Katalogs auf deren Erhalt durch, „weil die Bibliothekare natürlich mindestens die nächsten zwei Jahre vollkommen überlastet sind“. Aber warum setzt sie sich ausgerechnet für die Anna-Amalia-Bibliothek so ein? „Das ist der Ort, an dem die deutsche Identität gestiftet wurde – eine Identität, die in der Erinnerung auch Buchenwald einbezieht“, sagt Ritter-Santini bestimmt. Wer etwas von der Entstehung des Wissens in der Zeit der deutschen Klassik verstehen wolle, müsse sich einfach mit der einzigartigen Bibliothek beschäftigen. Vielleicht, so sagt die Komparatistin zögernd, habe der Brand ja auch etwas Gutes gehabt: „Jetzt wissen alle um die Bedeutung der Bibliothek, die 100 Jahre sträflich vernachlässigt wurde. Das zeigte der großherzige Einsatz der weimarschen Bürger und der Jenaer Kollegen in der Brandnacht, das zeigen auch die vielen Privatspenden.“

Doch ihr ist anzumerken, wie sehr das Feuer, das vermutlich durch einen Schwelbrand in dem maroden Gebäude verursacht wurde, zusetzt: „Sicher, wenn die Bibliothek restauriert ist, wird alles neuer, effizienter, digitalisierter sein.“ Der zeitweilige Umzug der Bücher in das moderne, komfortable Tiefenmagazin stand vor der Tür, als der Brand ausbrach. „Doch ich erinnere mich an das Knacken des Holzes, die alte Farbe, den Geruch nach Äpfeln.“ Der wurde hervorgerufen durch einen auf Bücher spezialisierten Schimmelpilz. Es wird wohl nicht mehr nach Äpfeln riechen, wenn die Anna-Amalia-Bibliothek nach Sanierung und Restaurierung wieder eröffnet wird.
bn