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Tabascosauce täte der westfälischen Suppe gut

Finden Studierende und Professoren ihre Stadt tatsächlich lebenswert?


Menschgemachtes Sehnsuchts-Eratzmittel: Der Aasee ist für Prof. Andersson ein Beweis für die Liebenswürdigkeit der Münsteraner.

Foto: Presseamt der Stadt Münster


"In Münster weht mir zu viel Kleinstadtmuff durch die Straßen. Auf Dauer ist das nichts für mich“. Marion Hebeler ist 23 Jahre alt, kommt aus Marburg und studiert im siebten Semester Germanistik. Auch Oleg studiert an der Westfälischen Wilhelms-Universität, seine Heimat ist allerdings weit entfernt: Oleg kommt aus Charkiw in der Ukraine, eine zwei Millionen-Stadt mit 350-jähriger Geschichte. Oleg ist begeistert von Münster: „Diese Stadt hat eine ganz besondere Atmosphäre, ich bin gerne hier.“

Dass Münster als lebenswerte Stadt mit Gold ausgezeichnet wurde, haben sowohl Marion als auch Oleg nicht mitbekommen. „Ich hatte keine Ahnung, dass es einen solchen Award überhaupt gibt“, sagt Oleg und staunt nicht schlecht. „Da wird sich zukünftig noch viel bewegen in Münster.“ Münster hatte sich zusammen mit 48 Städten aus 20 Ländern um den so genannten „LivComAward“ beworben. Die Endrunde des „International Awards for Liveable Communities“ ging im kanadischen Niagara über die Bühne, Münster war mit seiner 32seitigen Bewerbung „With history into the future“ dabei. Und zwar in der Kategorie mittelgroße Regional- und Hauptstädte mit 200000 bis 750000 Einwohnern. Die Westfalen wählten auf einen systematischen Ansatz, der auf langfristige Stadtentwicklung setzt. So punkteten sie vor Städten wie Coventry in England oder Changshu in China.

Die fünf Kategorien, nach denen die internationale Jury in der Ausscheidungsrunde vorging, waren für alle Städte gleich: Verbesserung der Landschaft, Gestaltung des historischen Erbes, Umweltbewusstsein, Bürgerbeteiligung, integrierte Zukunftsplanung. Münster erhielt in allen Kategorien die höchste Punktzahl. Zu Recht, wie Professor Gernot Münster findet: „Ich lebe und arbeite seit 14 Jahren hier, Münster ist definitiv lebenswert“. Woran er das festmacht? „Der Charakter der Innenstadt mit der gelungenen Rekonstruktion der historischen Fassaden, das kulturelle Angebot mit Museen und Konzerten, die Radwege, das Umland mit seinen vielfältigen Freizeitmöglichkeiten“. Ganz nebenbei ist Gernot Münster ein großer Fan der Stadtbibliothek, die Promenade nutzt er als Naherholungsgebiet. Summa sumarum ein Münsteraner, der sich in seiner Stadt rundherum wohlfühlt.




Zum hohen Freizeitwert der Westfalen-Metropole trägt auch der Wochenmarkt auf dem Domplatz bei.

Foto: Presseamt der Stadt Münster


„Der Aasee ist leider kein Ozean.“ Und das ist fast das einzige Manko, das Professor Jan Andersson, gebürtig aus Malmö, an Münster findet. Dem Dozenten geht es am besten, wenn eine frische Brise um seine schwedische Nase weht: „Münster mit einer Hafenstadt wie Malmö zu vergleichen, ist sicher unfair. Ein Jahr meiner Lehrtätigkeit habe ich außerdem in Chicago verbracht. Wenn man am Lake Michigan steht, ist das schon etwas anderes, als wenn man von der Segelschule aus Richtung Torminbrücke blickt.“ Sagt’s und gibt zu bedenken: „Vielleicht steht der Aasee stellvertretend für ganz Münster: Er ist überschaubar, lieblich, voller Leben in bürgerlichen Dimensionen.“ Ob er damit den Kleinstadtmuff meint, den schon Studentin Marion Hebeler bemängelt? Keineswegs! Ringt Andersson der Stadt mit – wörtlich – „so einer Wasserfläche“ doch auch Positives ab. „Der Aasee ist ein menschengemachtes Sehnsuchts-Ersatzmittel.“ Und wer sich so etwas erhält, sagt Andersson, der muss einfach liebenswürdig sein.

Für die Studierenden ist der Freizeitwert Münsters mit Aasee und Promenade zwar auch nicht unwichtig, bezüglich ihres Studiums setzen sie allerdings auf andere Kriterien: Seminar-Angebote, Betreuung durch die Professoren, Studentenaufkommen in den Lehrveranstaltungen. „Gerade in der Germanistik wird zur Zeit bei den Seminar-Angeboten erheblich gestrichen. Das macht mein Studium sicher einseitiger“, sagt Marion Hebeler. Aber sie gewinnt der Uni auch viel Positives ab: Die Innenstadtlage, die große Auswahl unter den Fachbereichen, die große und gut sortierte Uni-Bibliothek. Last but not least: „Die Verpflegung in der Mensa am Aasee ist einfach top. Denn leerer Bauch studiert nicht gern. Wer sein Gehirn anstrengt, sollte vorher was im Magen haben.“ Am Anfang ihres Studiums war sich Marion Hebeler nicht sicher, ob ein geisteswissenschaftliches Studium überhaupt das Richtige ist. „Ich habe die Zentrale Studienberatung in Anspruch genommen. Die Mitarbeiter dort hatten echt Ahnung und haben mir bezüglich meines Studienablaufs auf die Sprünge geholfen.“

Beim Thema Bürgerbeteiligung sind sich Studenten und Professoren einig: Münsters Bürger kümmern sich um die Belange der Stadt. Sie interessieren sich für neue Entwicklungen und bringen sich bei Verbesserungsvorschläge ein. Jan Andersson sagt: „Dadurch verwandeln die Münsteraner die berüchtigte Provinzhauptstadt in einen entdeckungswürdigen und lebendigen Ort.“ Genau das meint auch Antonia Langanke, die Volkswirtschaftslehre studiert und als Münsteranerin ganz klare Vorstellungen von ihrer Heimatstadt hat: „Als Münster sich für den Titel der Kulturhauptstadt 2010 beworben hat, da sind am Tag der Entscheidung Tausende von Münsteranern in roten T-Shirts auf den Prinzipalmarkt gekommen und haben sich stark gemacht für ihre Stadt. Ein eindrucksvoller Beweis für Bürgerbeteiligung in Münster. Das verstehe ich unter engagierten Bürgern.“ Und noch etwas findet Antonia an ihrer Heimatstadt absolut einmalig: „Fahrradfahrer haben Vorfahrt“.

Übrigens ein Kriterium, bei dem alle Befragten regelrecht ins Schwärmen geraten. Auch Jan Andersson, der den Ozean vermisst und Marion Hebeler, die vom Marburger Muff genug hatte und in Münster landete: Münster als Fahrradstadt wird in den höchsten Tönen gelobt. „Münster ist perfekt für Studenten. Ich erreiche alles mit dem Fahrrad“, urteilt Antonia. Gernot Münster, passionierter Radfahrer, ergänzt: „Die Promenade finde ich als Fahrradstraße ideal, andere Städte können sich unter anderem an unserem Fahrrad-Parkhaus ein Beispiel nehmen.“ Immerhin reichen die positiven Attribute aus, um die Schattenseiten von Münster wegzustecken. Antonia ist vom Charakter der Münsteraner manchmal genervt: „Ein Nicht-Westfale hat es schwer. Besonders aufgeschlossen und freundlich sind die Münsteraner auf den ersten Blick nicht. Aus Schwaben kenne ich kleine Straßenfeste und Viertel-Partys, die von kontaktfreudigen Anwohnern organisiert werden. So etwas würde den Münsteranern auch mal gut tun!“ Oleg wünscht sich mehr Kinderspielplätze und einen gesäuberten Aasee.

Einen Tropfen Tabascosauce – den würde Jan Andersson der westfälischen Suppe verpassen, in der er das eine oder andere Haar gefunden hat. Wenn ihm der westfälische Charme zu liebenswürdig wird, schlendert er nachts über den Prinzipalmarkt. „Hier ist es im Dunkeln viel kuscheliger als im Tageslicht.“ Eine poetische Atmosphäre, durchaus großstädtisch: „Goethe und Schiller wachen stumm über dem Eingang der Lambertikirche. Die Lichter in den drei Käfigen am Kirchturm erinnern an Dunkles in dieser hellen Stadt.“ Marion Hebeler dagegen hat sich für eine Radikalkur entschieden, sie sitzt auf gepackten Koffern und wird Münster den Rücken kehren: Auf nach Leipzig, wo sie ihr Hauptstudium beenden möchte. „Münster ist für mich nur eine Etappe auf meinem Lebensweg.“

Etappe oder Ewigkeit? Die Innensicht der Münsteraner ist offenbar weniger gut als die Bewertung der Juroren in Niagara. Aber vielleicht ist das auch nicht erstaunlich: Wer kennt nicht das Phänomen, das man den Wert einer Sache erst zu schätzen weiß, wenn man sie nicht mehr hat? Eine Umfrage unter Münster-Ehemaligen lässt zumindest vermuten, dass viele von ihnen der Stadt nachtrauern. Jörg Overbeck zum Beispiel hat Jura-Studium und Referendariat in Münster absolviert. Der 33jährige wohnt nun in Köln und ist als Pressesprecher einer internationalen Anwalts-Kanzlei beruflich in vielen anderen Städten unterwegs, unter anderem in Frankfurt, London und Berlin – so richtig heimisch aber fühlte er sich nur in der Westfalen-Metropole: „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich nach Münster zurückkehren. Diese Stadt ist für mich mit Abstand die lebenswerteste unter denen, die ich kenne – sie hat alles, was man zum Leben braucht, und das auch noch richtig dosiert.“
cb