Ein Zentrum des geistigen Widerstands

Roland Reichwein erinnert sich an seinen Vater, den Pädagogen Adolf Reichwein
[Prof. Roland Reichwein]
Die Erinnerung an seinen Vater wach hält Prof. Roland Reichwein, Emeritus des Instituts für Soziologie der Uni Münster.
Foto: jr   

Mein Vater war Vollblutpädagoge. Sein Ziel war immer, theoretisches und praktisches Lernen zu verbinden." Doch am 20. Oktober 1944 starb der Vater von Prof. Roland Reichwein, Emeritus am Institut für Soziologie, schon im Alter von 46 Jahren für seine politischen und pädagogischen Überzeugungen. Adolf Reichwein war bereits am 4. Juli von der Gestapo verhaftet worden und wirkte am Staatsstreichversuch des 20. Juli nicht mehr mit. Als "Aufstand des Gewissens" ging das Attentat auf Hitler in die Geschichte ein. Heute ist der 20. Juli dem Gedenken an die Widerstandskämpfer gewidmet. Doch so war es nicht immer: "Es gab Zeiten, da war es nicht angebracht, über meinen Vater zu sprechen. Die Politik hat sehr langsam umgedacht. Erst 1954 später wurde der 20. Juli als Gedenktag anerkannt", erinnert sich Roland Reichwein, der von 1976 bis 1999 in Münster lehrte.

Nachdem die Nationalsozialisten Adolf Reichwein 1933 aus seinem Amt als Professor an der pädagogischen Akademie in Halle geworfen hatten, arbeitete der Reformpädagoge als Volksschullehrer an der einklassigen Landschule in Tiefensee bei Berlin. "Das Ziel meines Vaters war es, die Selbstständigkeit der Kinder zu fördern. Seine Arbeit beschränkte sich nie auf den reinen Vormittagsunterricht", erzählt der heute 68-jährige Roland Reichwein. Seinem Vater war es gelungen, eine antinazistische Schule unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems aufzubauen. Unter dem Aspekt der Aktualität wird sein Buch "Schaffendes Schulvolk" auch heute noch diskutiert - interessant sind vor allem die Ansätze zum Lernen durch praktische Erfahrungen und der fächerübergreifende Unterricht. Adolf Reichwein leistete außerdem Pionierarbeit in den Bereichen Erwachsenenbildung, Museums- sowie Medienpädagogik. Adolf Reichweins schulpädagogisches Konzept ist von seinen politischen Grundüberzeugungen nicht zu trennen. Bildung bezieht sich nach seinem Verständnis auf das Wechselspiel von Weltverständnis und individuellem Selbstverständnis.

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Den "fliegenden Professor" nannten seine Studierenden Adolf Reichwein, der einen Flugschein besaß.
   

Doch wann entwickelte Reichwein die Ideale, die ihn später dazu bewegten, im Widerstand mitzuarbeiten? Mit 16 Jahren meldet er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, wird aber wegen seines jugendlichen Alters zurückgestellt und erst zwei Jahre später eingezogen. Die Erfahrungen, die er in diesem ersten Weltkrieg machen muss, bewegen den jungen Adolf Reichwein zum Umdenken: Als verwundeter Soldat kehrt er mit dem festen Willen zurück, sich von nun an für eine demokratische und gerechte Sozialordnung einzusetzen. Seitdem engagierte er sich als politisch denkender Pädagoge für Bildung und Erziehung. "Selbstbestimmung gehörte immer zu den obersten Zielen meines Vaters. Vor allem in den Bereichen Politik, Kultur und in der Arbeitswelt sollen die Menschen eigene Entscheidungen treffen", erklärt sein Sohn Roland. Seinen Idealen blieb Adolf Reichwein auch während der Nazi-Diktatur treu. Nach dem Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 wurde er Mitglied der SPD. Die Krise der Weimarer Republik drängte ihn zum verstärkten politischen Einsatz.

Seit Ende der 30er Jahre beteiligte sich der Reformpädagoge an Gesprächen und offiziellen Treffen der Widerstandsgruppe "Kreisauer Kreis". Zu den führenden Köpfen dieser bürgerlichen, zivilen Widerstandsgruppe gehörten neben Helmuth James Graf von Moltke vor allem Peter Yorck Graf von Wartenburg und Adam von Trott zu Solz. "Mein Vater hatte schon Ende der 20er Jahre persönliche Kontakte zu Moltke", sagt Roland Reichwein. Durch seine reichen pädagogischen Erfahrungen, aber auch durch seine Kenntnisse über Weltwirtschaftsfragen war Adolf Reichwein für Moltke immer ein wichtiger Gesprächspartner. Reichwein suchte aber auch außerhalb des Kreises nach Gleichgesinnten und Möglichkeiten des Widerstandes. Sein privates Arbeitszimmer wurde zu einem Treffpunkt verschiedener Regimegegner und entwickelte sich zu einem Zentrum der geistigen Widerstandskräfte.

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Pädagoge und Politiker: Adolf Reichwein
   

Gemeinsam war der Gruppe um Moltke ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus sowie ihr Ziel, eine Neuordnung für Deutschland nach dem Ende des NS-Regimes zu entwickeln. Auf der dritten Kreisauer Haupttagung, die im Juni 1943 stattfand und an der auch Adolf Reichwein teilnahm, wurden die Grundlagen einer künftigen deutschen Außenpolitik diskutiert und eine gesamteuropäische Ordnung sowie eine europäische Föderation von den meisten Mitgliedern befürwortet. Gleichzeitig suchte der Kreisauer Kreis mehr Kontakt zu anderen, auch militärischen Widerstandsgruppen. Ab 1943 wuchs bei vielen Mitgliedern der Gruppe die Bereitschaft zu einer aktiven Teilnahme an einem Staatsstreich. "Ich glaube, dass die Gruppe der Kreisauer eher unfreiwillig in die Umsturz-Pläne verwickelt wurde", sagt Roland Reichwein. Von einem Attentat auf Hitler sei nie direkt gesprochen worden. Nur vom "Tag X" und einem "Ende mit Schrecken" war die Rede.

Adolf Reichwein gehörte zu den ersten, die Kontakte zu den Kommunisten aufnahmen. Damit wollte er verhindern, die Kommunisten zu Gegnern zu haben, falls es einmal einen Umschwung geben sollte. Ein Teil der Kreisauer war jedoch dagegen, weil man wusste, dass kommunistische Gruppen mit Gestapo-Spitzeln durchsetzt waren. Am 4. Juli hatte Reichwein das zweite Treffen mit den Kommunisten vor sich - von dem er nicht mehr zurückkam. Drei Monate nach seiner Verhaftung wurde er in Berlin-Plötzensee durch den Strang ermordet, ohne vorher noch einmal seine Frau Rosemarie sehen zu können. "Für meine Mutter war der Tod meines Vaters ein schwerer Verlust", sagt Roland Reichwein, der erst acht Jahre alt war, als sein Vater für seine politischen Überzeugungen starb.

Die vierfache Mutter unterstützte immer die Widerstandsarbeit ihres Mannes. Doch Adolf Reichwein informierte seine Ehefrau Rosemarie, ausgebildete Krankengymnastin und Gymnastiklehrerin, nur spärlich über seine Aktivitäten, um sie und die Kinder zu schützen. Die Zeit nach 1945 war für Rosemarie Reichwein durch die eigene Berufsarbeit als Körpertherapeutin, die Erziehung der Kinder und die Erinnerungsarbeit an ihren Mann bestimmt. In ihrem Buch "Die Jahre mit Adolf Reichwein prägten mein Leben" erzählt sie, wie schwierig es für sie war, ihren Kindern vom Tod des Vaters zu berichten. Ihrem Sohn Roland las sie Stellen aus Briefen seines Vaters vor. "Ich erinnere mich, dass ich die Situation damals erst nicht ganz akzeptiert habe. Erst ein bis zwei Jahre später habe ich verstanden, wie mein Vater umgekommen ist", sagt Roland Reichwein.

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Pionierarbeit leistete Reichwein, hier mit seinem Sohn Roland in Tiefensee, als Volksschullehrer.
   

Nach dem Abitur begann Roland Reichwein 1955 in Freiburg ein Studium der Philosophie, Geschichte, Nationalökonomie und Soziologie, das er in Heidelberg mit dem Examen als Diplom-Volkswirt abschloss. "Als Student in Freiburg hielt ich das erste Referat über meinen Vater. Seitdem habe ich mich immer wieder mit seiner Arbeit und seinen politischen Überzeugungen auseinander gesetzt", erklärt Reichwein, der auch Herausgeber mehrerer Schriften über seinen Vater ist.

"Auch ich habe mich, ähnlich wie mein Vater, immer mit Bildungsfragen und Bildungspolitik beschäftigt. Später habe ich mich allerdings mehr auf die wissenschaftliche Arbeit konzentriert", sagt der Soziologe. Der 68-Jährige zeigt sich dem Lebenswerk und dem geistigen Erbe seines Vaters verpflichtet: Große Verdienste hat er sich mit der Pflege des Nachlasses und der Gründung des Adolf-Reichwein-Archivs erworben. "Erst 1976, als ich an die Pädagogische Hochschule in Münster berufen wurde, lernte ich das Reichwein-Archiv kennen und stellte fest, dass die Eigentumsfrage völlig ungeklärt war", erinnert sich Roland Reichwein. Gemeinsam mit Wilfried Huber, dem damaligen Archivleiter, beschloss er, 1982 den Adolf-Reichwein-Verein zu gründen.

"Aufstand des schlechten Gewissens" lautet der Titel einer Veranstaltungsreihe, die von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Münster, dem Evangelischen Forum und der Villa ten Hompel veranstaltet wird. Auch Reichwein wird in dieser Reihe einen Vortrag halten. Er referiert am 15. Juli ab 20 Uhr "Zum Umgang mit dem 20. Juli 1944 in der Bundesrepublik Deutschland" in der Villa ten Hompel. "Das Bild des 20. Juli ändert sich immer, denn es ist abhängig von der politischen Lage im Land. Leider hat man es versäumt, diesen Tag zu einem Staatsfeiertag zu machen", erklärt er. In seinem Vortrag geht der Zeitzeuge auch auf den unterschiedlichen Umgang in Ost- und Westdeutschland mit dem 20. Juli ein. "Es ist und bleibt nützlich und wichtig, sich mit diesem Tag und den Geschehnissen der damaligen Zeit auseinander zu setzen", betont Reichwein.

Julia Rasche