Charme, Charisma und Charakter

Dr. Roswitha Poll leitete 17 Jahre lang die ULB
[Dr. Roswitha Poll]
Herrin über sechs Millionen Bände war Dr. Roswitha Poll. Nun ist sie in den Ruhestand getreten.
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Charme, Charisma, Charakter, Chuzpe - der Verleger Prof. Klaus Gerhard Saur ist des Lobes voll über eine seiner besten Kundinnen. Dr. Roswitha Poll, die Mitte März ihren 65. Geburtstag feierte, ist damit gleichwohl noch nicht in den Ruhestand getereten. Zwar gibt sie die Leitung der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) ab, doch einen Arbeitsplatz behält sie dort noch immer. Da ist die Arbeit für die International Organization for Standardization, für die sie Normen zur Statistik und Leistungsmessung entwickelt, da ist der Band "Leistungsmessung in wissenschaftlichen Bibliotheken", der in deutsch und englisch neu herauskommen soll und der Aufsatz über die Kostenrechnung in Bibliotheken.

Also alles wie bisher? "Nein", sagt Poll, "jetzt kann ich kommen und gehen, wann ich will, jetzt habe ich einfach nicht mehr diese Hetze." Aber sie könne nicht nur zu Hause arbeiten, sie brauche die Bücher und das Gespräch mit den Kollegen. 17 Jahre war Poll verantwortlich für fast sechs Millionen Bände, 20000 Zeitschriften, 300 Datenbanken, 150 Mitarbeiter und rund 150 Bibliotheken. Als sie aus Erlangen nach Münster kam, waren es noch 215. Die Zusammenlegung und zentrale Erfassung der Bestände gehörte zu ihren Hauptaufgaben. "Als ich anfing, war kaum eines der Bücher direkt zu erreichen. Alles musste nach der Suche in den Zettelkästen über ein kompliziertes Lochkartensystem bestellt werden", erzählt Poll. Eine Million Bücher mussten umgeräumt werden, um die Magazine in Freihandbibliotheken umzuwandeln. Heute sind 60 Prozent des Bestandes frei zugänglich, rund 95 Prozent in den Online-Katalogen, die seit 1990 angelegt wurden, zu recherchieren.

Eine Sisyphos-Arbeit, die nur durch den konsequenten Einsatz moderner Managementmethoden zu leisten und zu finanzieren war. Vorbereitet wurde Poll in ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin darauf nicht. Nach ihrer Promotion in Münster über den preußischen General, Militärhistoriker und Diplomaten Georg Wilhelm von Valentini folgte sie ihrem Mann, dem Geologen Prof. Kurt Poll, nach Erlangen und fing in der dortigen Zentralbibliothek an. "Es war reiner Zufall, ich wollte nach dem Studium mal etwas anderes machen. Aber dann habe ich gemerkt, was für ein interessanter Job das ist", erzählt die gebürtige Ostpreußin. "Man hat mit allen Fächern zu tun und kann überall hineinschnuppern." Ähnlich wie Münster hat auch Erlangen ein breit gestreutes Bibliothekssystem, hier lernte sie zum ersten Mal, wie wichtig eine koordinierte Erwerbungspolitik und eine einheitliche Verwaltung sind.

Dass die ULB Münster heute zu den führenden in Deutschland gehört, dass die studierte Historikerin in wichtigen nationalen und internationalen Gremien zum Bibliothekswesen vertreten ist, hat sich "von selbst entwickelt". Betriebswirtschaftliche Theorien und Marketing-Grundlagen prägen inzwischen ihre Arbeit. "Wir müssen auch für Bibliotheken eine Kosten- und Qualitätstransparenz herstellen. Die Frage ist nur, wie ihre Leistung gemessen werden kann", erläutert Poll. Sie war federführend an der Entwicklung von internationalen Normen beteiligt, um Leistung vergleichbar zu machen. "Zuverlässigkeit, Schnelligkeit, Aktualität und Vollständigkeit sind einige der Merkmale, auf die es bei einer Bibliothek ankommt." Bei den regelmäßigen Nutzerumfragen schneidet die ULB stets positiv ab. Das mag auch daran liegen, dass sich die Mitarbeiter immer bemühen, den Wünschen der Studierenden entgegenzukommen. So wurden die Öffnungszeiten verlängert, Gruppenarbeitsplätze eingerichtet und die Schulungs- und Informationsangebote ständig erweitert.

"Ich denke, wir sind auf einem guten Weg", meint Poll zufrieden, "aber durch die rasante Entwicklung der EDV ist es schwierig geworden, strategische Entscheidungen zu treffen. Früher gab es eine klare Definition der Aufgaben, heute ändern sie sich von Monat zu Monat." Sollen Zeitschriften nur noch elektronisch bestellt werden? Wie kann die Zusammenarbeit zwischen ULB und dem Zentrum für Informationsverarbeitung noch ausgebaut werden? Lässt sich die Zeitschriftenkrise durch das kostenlose Publizieren über einen Universitätsverlag umgehen? Für Dr. Beate Tröger, die am 1. Mai ihre Nachfolge als Direktorin der ULB antritt, bedeutet das eine gewaltige Herausforderung. "Wir müssen mit den vorhandenen Mitteln eine möglichst bereite Information bereitstellen. Ich denke, es wird noch Jahre dauern, bis sich der Markt konsolidiert hat", so Poll. Dafür wird Tröger Fantasie, Vorstellungskraft, Planungs- und Entscheidungsfähigkeit, jene Eigenschaften, die für Poll eine Bibliotheksdirektorin ausmachen, brauchen.

Der Erwerb wertvoller Handschriften wie der Dyck'schen, einer der ersten Erzählungen des Reineke Fuchs, und wichtiger Sammlungen wie der Regierungsbibliothek Arnsberg kann sich Poll ebenso als Verdienst anrechnen lassen wie die Genehmigung des Erweiterungsbaus, der die seit Jahrzehnten aus allen Nähten platzende Bibliothek entlasten soll. Eines allerdings ist Poll über all die Jahre nicht gelungen: Die Herausgabe des Erlanger Promotionsverzeichnisses, das nun endlich fertig werden soll.

Ein "wirkliches Vergnügen" wäre es für Poll, ihre Mädchenbuchsammlung von rund 400 Bänden einmal systematisch wissenschaftlich zu durchleuchten und in Zusammenarbeit mit verschiedenen Lehrstühlen ein Buch und eine Ausstellung dazu herauszugeben. Und Charlotte Mary Younge wartet auch noch, neben den Brontës und Jane Austen die Lieblingsschriftstellerin Polls, die mit Familienromanen eine große Fangemeinde unter ihren viktorianischen Zeitgenossen hatte und heute fast unbekannt ist.

Gerne würde Poll einmal ein Buch von ihr ins Deutsche übersetzen, aber auch dafür fand sich bislang noch nicht die Zeit. Dass gerade englische Romane zu ihren privaten Lieblingsbüchern gehören, hängt auch mit der Arbeit zusammen: "Ich bin es natürlich gewohnt, Bücher schnell quer zu lesen, das bringt der Beruf nun mal mit sich. In Englisch lese ich langsamer, dann kann ich die Bücher mehr genießen."

Brigitte Nussbaum