Forschungsansatz: Bürgerschaftlicher Konstitutionalismus. Verfassung und Grundlagen demokratischer Geschlechterverhältnisse in Europa.

Prozesse der Europäisierung und Globalisierung haben die Frage nach der Verfassung und den Grundlagen europäischer Zivil- und Bürgergesellschaften verstärkt in das Zentrum sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlicher Analysen gestellt. Zugleich führten die Auseinandersetzungen über die politischen, sozio-moralischen und sozio-kulturellen Grundlagen moderner Gesellschaften auch zu einer kritischen Reflexion der Bedeutung von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen als gesellschaftliche und gesellschaftskonstituierende Ordnungsmacht.

Vor diesem Hintergrund versteht sich „Bürgerschaftlicher Konstitutionalismus" als Metapher für Konturen einer kritisch-feministischen Theorie des Politischen, die Geschlecht und Geschlechterverhältnisse als diskursive und praktische Konstitutionsressourcen sozialer und politischer Ordnungen konzeptuell und systematisch hinterfragt. Erkenntnisinteresse ist, das Fortbestehen sowie den Wandel von Geschlechteridentitäten, Kulturen und sozialen Handlungsgefügen in den europäischen Gesellschaften sowohl in Reaktion auf die Institutionalisierung neuer Herrschaftsverhältnisse als auch in ihrer Festschreibung durch neue Formen des Regierens zu analysieren. In diesem Kontext richtet sich der Blick vor allem auf Subjektformationen, auf verschiedene Inklusions- und Exklusionsmechanismen, auf gesellschaftliche Gleichheits- und Ungleichheitsprozesse, die von europäischen und nationalen  Politiken ausgehen, sowie auf die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sie konstituieren.

Die Analyse erfolgt auf der Grundlage eines erweiterten Verständnisses des Politischen. Dieses ergibt sich im Forschungsansatz zum Bürgerschaftlichen Konstitutionalismus aus der Verbindung des  Konzepts der Gouvernementalität von Michel Foucault mit gesellschaftszentrierten Ansätzen der Politikwissenschaft. Dazu gehören Ansätze von Hannah Arendt zu den Grundlagen politischen Handelns, das Demokratieverständnis von Alexis de Tocqueville, Carole Patemans Analysen zum Geschlechtervertrag, der Ansatz der radikalen Demokratie von Chantal Mouffe, die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci.

Aus den grundlegenden Annahmen, die Foucault in seiner Theorie der Gouvernementalität aufgezeigt hat, ergeben sich für ein feministisch-kritisches Forschungsprogramm drei methodische Hinweise: (1) ein gesellschaftszentriertes Verständnis von Geschlechterverhältnissen als Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu entwickeln, (2) das Geschlechterverhältnis nicht primär auf der Ebene von Institutionen und Entscheidungen politischer Akteur*innen zu suchen, sondern in den Effekten dieser Politik in den Bereichen der Öffentlichkeit (Arendt), der Zivil- und Bürgergesellschaft (Tocqueville), der familialen Privatheit (Pateman) und des staatsbürgerschaftlichen Diskurses zu verorten und (3) bei der Analyse gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse ausgehend vom Hegemoniekonzepts (Gramsci) eine „aufsteigende Machtanalyse“ vorzunehmen.

Aus diesem methodischen Vorgehen ergibt sich für das ZEUGS ein dreistufiges sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm, das insbesondere in den ersten beiden Stufen interdisziplinär und in der dritten Stufe vorwiegend politikwissenschaftlich angelegt ist.

 

Durchgeführte und laufende Aktivitäten:

1. Workshop
Workshop „Interdisziplinäre Vernetzung der Geschlechterforschung“ im Rahmen der Gründung des Zentrums für Europäische Geschlechterstudien (ZEUGS) an der Universität in Münster am 7. Mai 2010.

2. Interdisziplinäre Ringvorlesung
Interdisziplinäres Genderkolleg – Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der wissenschaftlichen Analyse. Ringvorlesung an der Universität Münster im WS 2010/11 und SS 2011.

3. Forschungsgruppe an der Graduate School of Politics (GraSP, IfPol)
Interdisziplinäre Forschungsgruppe zum Gouvernementalitätskonzept und seiner Anwendung mit Beginn des WS 2012/13.
Hier geht es zur Seite der Forschungsgruppe "Gouvernementalität" der Graduate School of Politics (GraSP) der Universität Münster.

4. Sammelband
Im Blick der Disziplinen. Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der wissenschaftlichen Analyse. Westfälisches Dampfboot, Münster 2012. (Prof.’in Dr. Gabriele Wilde und Stefanie Friedrich M’phil)

5. Beiträge und Aufsätze

Wilde, Gabriele/ Abels, Gabriele: Legitimationsprobleme europäischer Straatlichkeit. Strategien europäischer Öffentlichheit, in: Bieling/ Große Hüttmann (Hrsg.) 2015: Europäische Staatlichkeit: zwischen Krise und Integration.

Wilde, Gabriele: Alexis de Tocqueville Revisited: Between the Centralization of Political Power, Civil Associations, and Gender Politics in the European Union, in: Freise, Matthias / Hallmann, Thorsten (Eds.) 2014: Modernizing Democracy. Associations and Associating in the 21st Century. Springer-Verlag, New York, S. 31-44.

Wilde, Gabriele: Zivilgesellschaftsforschung aus Geschlechterperspektive. Zur Ambivalenz von Begrenzung und Erweiterung eines politischen Handlungsraumes, in: Zimmer, Annette/Simsa, Ruth (Hg.) 2014: Quo Vadis? Forschung zu Partizipation, zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihrem Management, Springer VS, Wiesbaden, S. 209-230.

Wilde, Gabriele: Supranationale Gouvernementalität. Zur Neuordnung demokratischer Geschlechterverhältnisse durch europäische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitiken, in: Abbas, Nabila/Förster, Annette/Richter, Emanuel (Hg.) 2014: Supranationalität und Demokratie. Reihe „Staat-Souveränität und Nation“, hrsg. Von Rüdiger Voigt und Samuel Salzborn. VS-Verlag, Wiesbaden.

Wilde, Gabriele: Europäische Gleichstellungsnormen: Neoliberale Politik oder postneoliberale Chance für demokratische Geschlechterverhältnisse? in: juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft. Gemeinsame Ausgabe mit der Zeitschrift Kritische Justiz zum Thema: Postneoliberale Rechtsordnung? Suchprozesse in der Krise, Heft 4/2010, S. 449-464.