Teilprojekt B02

Wie und warum zitieren Gerichte? Zitate und Verweise in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des Supreme Court of Canada

Gerichte zitieren oder verweisen in ihren Urteilen regelmäßig auf eigene vorhergehende Urteile oder Entscheidungen höherer Gerichte. Aber sie nehmen oft auch intertextuell Bezug auf rechtswissenschaftliche Literatur, Gerichtsentscheidungen anderer Rechtssysteme oder gar literarische Texte. Die erste Form der Zitate entspricht der Funktionslogik von Gerichten. Durch das Zitieren eigener Entscheidungen oder Entscheidungen höherer Gerichte zeigen die Richter*innen, dass ihre Entscheidung auf der etablierten Dogmatik aufbaut und dass sie sich kohärent in das bestehende Recht einfügt. Demgegenüber haben weder Gerichtsentscheidungen anderer Rechtssysteme noch literarische Texte unmittelbare Autorität für die Auslegung des Rechts. Ziel des Teilprojekts ist es daher zu untersuchen, zu welchem Zweck und mit welchen rhetorisch-argumentativen Mitteln Gerichte solche Quellen zitieren oder auf sie verweisen. Dabei beschränkt sich die Analyse in der ersten Projektphase in zweierlei Hinsicht, zum einen mit Blick auf die berücksichtigten Gerichte, zum anderen in der Festlegung auf zwei spezifische Zitationsbereiche.
Die Untersuchung konzentriert sich auf zwei Gerichte – das Bundesverfassungsgericht einerseits und den Supreme Court of Canada anderseits. Durch die Wahl dieser beiden Gerichte soll jeweils ein prominenter Vertreter aus dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis und aus dem anglo-amerikanischen Common Law gegenübergestellt werden. Der Vergleich soll Rückschlüsse erlauben, ob und ggf. wie die Zitierpraxis sich in unterschiedlichen Rechtskulturen unterscheidet. Aus dem kontinental-europäischen Rechtskreis bietet sich das Bundesverfassungsgericht als Untersuchungsgegenstand an. Es ist eines der am längsten bestehenden und einflussreichsten Verfassungsgerichte in Europa. Der kanadische Supreme Court ist ein ebenfalls seit langem bestehendes, einflussreiches Obergericht der Common Law Tradition mit einer größeren Offenheit gegenüber Zitaten systemexterner Rechtssysteme als bspw. der US Supreme Court. Insofern wir es also mit zwei Rechtskreisen zu tun haben, gehört das Teilprojekt fraglos in den Projektbereich B (Komparativität).
Inhaltlich konzentriert sich die Untersuchung auf zwei Bereiche: die intertextuelle Bezugnahme auf Gerichtsentscheidungen anderer Rechtssysteme und die Bezugnahme auf systemfremde Literatur. Erstere kann sich auf andere nationale Rechtssysteme, aber auch auf subnationale – beispielsweise indigene – Rechtstraditionen beziehen; hier stellt sich nicht nur die Frage nach der argumentativen Funktion der eigentlichen Referenz, sondern ebenso die nach den Implikationen der u.U. unterschiedlichen epistemologischen Logiken der durch das Zitat zueinander in Bezug gesetzten Rechtssysteme. Der Verweis auf systemfremde Literatur in Urteilsbegründungen ist zwar aus Sachgründen nachvollziehbar, etwa beim Rückgriff auf rechtswissenschaftliche Literatur, auf Fall-spezifische Literatur und generell auf all jene (auch ‚schöne‘) Literatur, die ein autoritatives Zitieren erlaubt – es muss aber gefragt werden, welche Auswirkungen diese Art der intertextuellen Bezugnahme auf die gerichtliche Kompetenz hat. Es wird also zu untersuchen sein, wie systemexterne und systemfremde Verweise in gerichtlichen Urteilen genutzt und funktionalisiert werden und welche Konsequenzen solche Verweise für die textliche Kohärenz dieser Urteile haben.
Eine Analyse von Zitat und Zitieren setzt sowohl eine theoretische Gegenstandsbestimmung als auch ein begriffliches Instrumentarium voraus, die es erlauben, Typen und Funktionen miteinander zu korrelieren. Es ist die sprach- und literaturwissenschaftliche Intertextualitätsforschung, die Texteigenschaften des Zitats und Techniken des Zitierens zum Gegenstand hat, genauer: Sie untersucht die Transposition eines Textelements oder einer Texteigenschaft sowie die unterschiedlichen Beziehungsformen zwischen Texten, Textin-stanzen und Textsorten; sie fragt nach den relevanten Transformationen, die ein oder mehrere Texte durch Transposition erfahren. Relevant sind hierbei nicht nur Veränderungen der formalen Gestalt, die durch Zitat und Zitieren affiziert wird, sondern vielmehr die veränderte Rolle, die Zitat und Zitieren hinsichtlich der Bedeutung von Texten spielen. Es scheint für das Zitat bezeichnend, dass ‚Bedeutung‘ hier in dessen doppelten Verwendung von „Sinn“ und „Gewicht“ verstanden werden kann. Für Texte, deren Normativität außer Frage steht, ist die Frage entscheidend, ob, wie und bis zu welchem Grad Zitat und Zitieren nicht nur den Sinn, sondern auch den Autoritätsgehalt einer Schrift verändern. Nur durch den Vergleich verschiedener Typen sowie den Vergleich verschiedener Gattungen von Quell- und Zieltexten kann die Spezifik von Zitat und Zitieren in Gerichtsentscheidungen klar hervortreten. Das Teilprojekt weist so in den Projektbereich A (Materialität) hinein, der Transformation durch Adaptation und Integration untersucht, wobei jedoch die Spezifik eines „rechtlichen Zitierens“ nur über den Vergleich von Zitat und Zitieren in Rechtskreisen, in Recht und in Literatur sowie in deren rechts- und literaturwissenschaftlicher Behandlung klar hervortritt.

Teilprojektleitung

Prof. Dr. Niels Petersen
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie empirische Rechtsforschung
Universitätsstr. 14-16, JUR 212
48143 Münster
Tel.: +49 251/83-21862
Email: niels.petersen@uni-muenster.de

PD Dr. Lars Korten
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Germanistisches Institut
Schlossplatz 34, SH 137
48143 Münster
Tel.: +49 251/83-25405
Email: lars.korten@uni-muenster.de

Wissenschaftliche Mitarbeit

Joy Steigler
Laura Wittmann