Angst vor dem Unbekannten

Warum die Visegrád-Staaten die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen - ein Gastbeitrag von Prof. Eduard Mühle

Wl 04 2016-6
Gastbeitrag von Prof. Eduard Mühle in der Unizeitung "wissen|leben"
© upm/wissen|leben

Der Gastbeitrag ist in der April-Ausgabe der Unizeitung „wissen|leben“ erschienen.

In der aktuellen Flüchtlingsdebatte beziehen die Visegrád-Staaten vernehmlich Position. Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn wollen keine Flüchtlinge, erst recht keine muslimischen. Sie sind gegen europäische Quotenregelungen und für Grenzzäune, warnen vor dem Verlust nationaler Identitäten und der Preisgabe europäischer Kultur. Das stößt viele ihrer Partner vor den Kopf, weckt Unverständnis und den Vorwurf unsolidarischen Verhaltens.

In der Tat fragt man sich, warum sich die Ostmitteleuropäer so energisch weigern, auch nur einige Hundert Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen? War nicht die eigene Geschichte immer wieder von Migrationen und Fluchtbewegungen, von der Aufnahme fremder Flüchtlinge und der eigenen Flucht in die Fremde geprägt? Haben nicht vor allem im 20. Jahrhundert Hunderttausende von Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn ihre Heimat durch Vertreibung, Flucht und Emigration verloren und in der Fremde Zuflucht gefunden, aber auch Fremden in der eigenen Heimat Zuflucht gewährt? Überdies, war das östliche Mitteleuropa bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein nicht der ethnische, konfessionelle, sprachliche und kulturelle Schmelztiegel Europas?

Gewiss, das Gemisch der Völker, die sich nur mühsam aus der Vorherrschaft der Deutschen, Österreicher und Russen emanzipierten, war nicht unproblematisch, hat nicht wenig zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts beigetragen. Doch sollte nicht gerade daraus, aus der spezifischen historischen Erfahrung des östlichen Mitteleuropa eine erhöhte Sensibilität für die Notwendigkeit gemeinsamer europäischer Strategien erwachsen. Sollten nicht die positiven Auswirkungen der zwölfjährigen EU-Zugehörigkeit der Visegrád-Staaten deren Einsicht in die Sinnhaftigkeit transnationaler Lösungen und europäischer Solidarität gefördert haben?

Dass dem nicht so ist, hat im Wesentlichen zwei Ursachen – eine tagespolitische und eine historische. Wenn der ungarische Ministerpräsident erklärt, die Aufnahme von Flüchtlingen gefährde Ungarns wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zukunft; wenn der tschechische Staatspräsident behauptet, der Islam gehöre nicht zu Tschechien; wenn der slowakische Premier verkündet, eine Integration muslimischer Flüchtlinge sei unmöglich; wenn die polnische Regierungschefin vor der Illusion warnt, Flüchtlinge aufnehmen zu können, und alle vier die Aufnahme syrischer Bürgerkriegsopfer mit dem Import von Terrorismus und Kriminalität, ja mit einem islamistischen Angriff auf die europäische Kultur gleichsetzen, dann ist das zunächst einmal populistische Tagespolitik. Diese Politik zielt auf die Wählergunst und instrumentalisiert die Flüchtlingskrise – so wie dies auch rechtsnationale Gruppierungen in Deutschland, Frankreich oder Holland tun – für vordergründige parteipolitische Zwecke. Schließlich soll die Aufmerksamkeit jener Bevölkerungsteile, die sich wirtschaftlich und sozial benachteiligt und im Stich gelassen fühlen, von hausgemachten innenpolitischen Problemen abgelenkt werden.

Die ostmitteleuropäischen Staaten kennen praktisch keine Ausländer

Dabei wird das fremdenfeindliche Ressentiment mit Kritik an einer vermeintlich von linken Ideologien dominierten EU verknüpft, die oft im Gewand eines antideutschen Affekts daherkommt. So wettert der Vorsitzende der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“, Jarosław Kaczyński, dass die Todfeinde Polens (sprich: die Deutschen) das Land nötigen würden, Muslime aufzunehmen und den Polen verwehrten, „Herr im eigenen Hause zu bleiben“.
Das polnische Beispiel zeigt auch, wie sehr die aktuelle Einstellung der Ostmitteleuropäer von der Tagespolitik beeinflusst ist – und also bei wechselnden Regierungen auch wieder anders aussehen kann. Im Mai 2015, ehe die bürgerliche Regierung von der rechtsnationalen PiS-Regierung abgelöst wurde, waren noch 72 Prozent der Polen für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Krisengebieten; im Januar 2016 nur noch 41, im Februar 2016 noch 39 Prozent. In Tschechien sprachen sich im Februar 2016 nur 34 für, 61 Prozent aber gegen eine Aufnahme aus.

Die Zahl der Polen und Tschechen,die mit einer dauerhaften Integration von Flüchtlingen einverstanden wären, lag dabei zuletzt bei nur vier beziehungsweise drei Prozent. Das lässt sich nicht allein durch die rechtspopulistische Tagespolitik, auch nicht durch die jüngsten Terroranschläge erklären, sondern verweist auf tiefer liegende Befindlichkeiten und spezifische historische Hintergründe.Tatsächlich kennen die ostmitteleuropäischen Gesellschaften praktisch keine Ausländer. Seit der deutsche Vernichtungskrieg und seine Folgen zwischen 1939 und 1949 die (durchaus von Nationalitätenkonflikten geprägte) ethnisch-kulturelle Vielfalt Ostmitteleuropas zerstört haben, sind die Visegrád-Staaten homogene Nationalstaaten.

Diesen hat die kommunistische Propaganda überdies vier Jahrzehnte lang eingeimpft, dass ihre nationale Existenz an eben dieser Homogenität hänge. An diesem tief verinnerlichten Glauben hat der Systemwechsel von 1989 ebenso wenig geändert wie an der ethnischen Homogenität der postsozialistischen Staaten; auch heute leben in Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei allenfalls verschwindende Reste alter Minderheitengruppen, erreicht der Anteil neuer fremder Arbeitsmigranten nicht einmal ein halbes Prozent. Die ostmitteleuropäische Flüchtlingsphobie ist also vor allem eine Angst vor dem Unbekannten, eine Folge fehlender Erfahrung – und ähnelt damit dem Verhalten von Teilen der ehemaligen DDR-Bürger.

Dass man sich auf dieses Unbekannte auch auf Druck der EU nicht einzulassen bereit ist, hat wiederum mit der leidvollen Erfahrung imperialer Überwältigung zu tun. Die weit über den Zweiten Weltkrieg und die Sowjetzeit zurückreichenden Unterdrückungen haben – nachvollziehbarer Weise – eine tiefsitzende Aversion gegen jede Form der Bevormundung ausgelöst. Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund auch zentralistische Vorgaben aus dem fernen Brüssel mitunter auf vehemente Abwehr stoßen.

Prof. Eduard Mühle ist Direktor der Abteilung für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der WWU. Am Sonderforschungsbereich 1150 „Kulturen des Entscheidens“ leitet er das Teilprojekt C07 Politisches Entscheiden in der sozialistischen Tschechoslowakei.

Quelle: „wissen|leben“, Nr. 2, 20. April 2016