(B2-1) Exemplarisches Handeln mit res divinae und res humanae – Diskursformation in den Personendarstellungen der römischen Literatur (Brief, Biographie und Rhetorik)

Die Frage, ob und gegebenenfalls wie römische Intellektuelle eine Vorstellung von der Unterscheidung des Religiösen vom Politischen entfaltet haben, lässt sich nur ausschnitthaft anhand derjenigen Textsorte untersuchen, die für moderne Behandlungen des Themas die wichtigste geworden ist, nämlich der fachlichen Abhandlung beziehungsweise des Traktats. Vielmehr sind die interessantesten Beiträge in der Dichtung und literarischen Kunstprosa zu finden, wo sie zudem häufig in die Erzählung und Diskussion konkreter, der Geschichte und Gegenwart entnommener Ereignisse integriert sind. Was in der Abhandlung aristotelischen Typs als abstrakte Relation formuliert und diskutiert wird, erscheint in der Kunstprosa als eine Figuration, in der die gedankliche Komplexität gegenüber den nicht formgebundenen Aussageweisen des Traktats durchaus noch gesteigert sein kann. Nach dem Ende der naiven philologischen Reduktion literarischer Epistemologie auf abbildende Dokumentation gilt es zudem, wieder die in der antiken Praxis selbstverständliche Annahme zu berücksichtigen, dass literarische Texte die ihnen äußerlichen Begründungs- und Sprechweisen anderer Diskurse niemals übernehmen, sondern diese zitieren, reorganisieren und eigenen Zwecken zuführen. Sie nehmen damit teil an der Formation der Diskurse, worunter in heuristischem Sinn zunächst ein loser, historisch variabler, oft in ideologischer Absicht behaupteter Zusammenhang von Vorstellungen, Gegenständen, Handlungen und Sprechweisen verstanden sein soll.

Im Ausgang von Ciceros Empfehlung für Redner, in jeder konkreten Fragestellung (quaestio finita) die betreffende allgemeine zu suchen (quaestio infinita), lassen sich somit die ausgewählten Texte auf die Frage hin untersuchen, in welcher Weise die gewählte Form genutzt wurde, um die Zuweisung von Vorstellungen, Sprechweisen und Handlungen zu einem (definierten?) Bereich des Religiösen oder Politischen oder beides Umfassenden durchzuführen oder zum Thema zu machen. Dass ‚Religion‘, ‚Politik‘ oder ‚Literatur‘ sämtlich keine einzelnen Äquivalente im Lateinischen besitzen, darf als Indiz dafür gelten, dass kategorial differente Begriffsformationen ihre Verwendung überflüssig machten. Als Ersatz der modernen Substanzbegriffe steht daher bei der Untersuchung der historiographischen, biographischen, rhetorischen und epistolographischen Texte (letztere werden im zweiten Projektteil auch in die Spätantike hinein berücksichtigt) Varros so offene wie treffende Unterscheidung der res divinae als Göttliches und der res humanae als Menschliches betreffenden Angelegenheiten. Häufigkeit und paradigmatischer Charakter rechtfertigen dabei die Konzentration auf Personendarstellungen, zumal diesen als pragmatisch formulierten, aber theoretisch fundierten Äußerungsformen Vorstellungen von religiöser und politischer ‚Gewaltenteilung‘ besonders effektiv eingebunden werden konnten.


Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform H Kulturelle Ambiguität und der Koordinierten Projektgruppe Mediale Figurationen des Politischen und des Religiösen.