„Bedeutung von Religion weltweit dramatisch abgenommen“
Religionssoziologen legen Neuauflage einer der umfassendsten empirischen Untersuchungen religiöser Trends weltweit vor – Detlef Pollack: Die Bedeutung von Religion hat weltweit auch in bisherigen religiösen Hochburgen dramatisch abgenommen – „Auch mehrheitlich muslimische Länder wie Iran und Türkei bleiben vom religiösen Rückgang nicht verschont“ – Aktualisierte und erweiterte Neuauflage des Standardwerks „Religion in der Moderne“
Pressemitteilung vom 01.07.2025
Die Bedeutung von Religion und von religiösen Institutionen hat neuen religionssoziologischen Forschungen zufolge in jüngster Zeit weltweit dramatisch abgenommen. „Die zunehmende Säkularisierung, also der Rückgang religiöser Bindungen, betrifft nicht nur die Regionen Westeuropas, in denen diese Tendenzen seit langem beobachtet werden, sondern auch bisherige religiöse Hochburgen wie Polen und die USA sowie Südkorea und Japan. Das gilt auch für muslimisch geprägte Staaten in Nordafrika sowie die Türkei und den Iran“, erläutert der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Er hat mit seinem Fachkollegen Dr. Gergely Rosta eine stark erweiterte und überarbeitete Neuauflage des Standardwerks „Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich“ im Campus Verlag veröffentlicht. Die dritte Auflage der Studie unterscheidet sich laut den Autoren deutlich von der ersten: „Die Religionssoziologie beobachtet seit Jahrzehnten Rückgänge in der Bindung an Religion und Kirche in Westeuropa und dabei auch in Westdeutschland. Die dramatischen Abbrüche auf dem weltweiten religiösen Feld in den vergangenen Jahren, die wir im Buch aufgrund neuer Daten zeigen, sind allerdings selbst für einen Säkularisierungstheoretiker wie mich überraschend gekommen.“

Der Anteil der Konfessionslosen in den USA zum Beispiel, der sich im 20. Jahrhundert noch durchgehend im einstelligen Prozentbereich bewegte, sei auf knapp ein Drittel gestiegen, führt Pollack aus. „In Polen, das sich zuvor durch eine beachtliche religiöse Stabilität auszeichnete, sind allein zwischen 2015 und 2021 die wöchentlichen Gottesdienstbesuche um zehn Prozentpunkte zurückgegangen.“ Unter den mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern sticht nach den Worten des Wissenschaftlers besonders die Säkularisierung im Iran hervor: „Einer Online-Befragung zufolge verstehen sich nicht, wie offizielle Zahlen suggerieren, mehr als 99 % der Iranerinnen und Iraner als muslimisch, sondern nur etwa 40 %. Etwa 22 % sagen, sie würden keiner Religion angehören und etwa 9 % sind Atheisten.“ Zwar sei in den vergangenen 20 Jahren die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Religion und religiös aufgeladene politische Konflikte gestiegen, der Rückgang religiöser Bindungen in vielen Regionen der Welt sei aber unübersehbar. Die Gültigkeit der Säkularisierungstheorie, nach der der Bedeutungsrückgang von Religion und Kirchen mit Prozessen der Modernisierung im Zusammenhang steht, sei entgegen erneuter Kritik von Theologen nicht zu bestreiten.
„Der Glaube an Gott oder an ein Jenseits für viele nicht mehr plausibel“
Die Wissenschaftler erklären den Bedeutungsverlust von Religion durch Faktoren wie ein wachsendes Wohlstandsniveau, Demokratisierung, Ausbau des Sozialstaats sowie Individualisierung und kulturelle Pluralisierung. „Die Bedingungen, unter denen sich religiöse Sinnsysteme zu bewähren haben, haben sich so grundsätzlich verändert, dass der Glaube an ein Jenseits, an Gott, an die Wirksamkeit religiöser Rituale und die Heilskraft religiöser Institution für viele nicht mehr plausibel ist“, so Pollack. „Basierend auf solchen religionssoziologischen Kategorien kommt der Säkularisierungstheorie eine beachtliche Erklärungskraft zur Analyse des religiösen Wandels in modernen Gesellschaften zu.“
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Säkularisierungstheorie hatte sich zuletzt erneut entzündet: „Eine neue Datenlage und nicht zuletzt die in Teilen der deutschen Theologie umstrittenen Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) haben uns bewogen, die Argumentation des Buches in der dritten Auflage noch einmal gründlich zu revidieren“, so Pollack. „Fragten wir in den ersten Auflagen noch vorsichtig nach Indizien für die Säkularisierungstheorie, so bildet sie nun einen festen Ausgangspunkt unserer Darstellung.“ Kern der jüngsten Debatte sind Fragen nach dem Religionsverständnis: Manche Kritiker der Säkularisierungstheorie plädieren, so Pollack, unter dem Label der ‚Lived Religion‘ dafür, das Selbstverständnis des Individuums, also das, was den Menschen persönlich wichtig ist, in den Fokus zu rücken. „In einigen Teilen der deutschen Theologie ist basierend auf diesem unbestimmten Religionsbegriff eine Verweigerungshaltung entstanden, die empirischen Befunde anzuerkennen, die unübersehbar einen weltweiten Bedeutungsrückgang von Religion und religiösen Bindungen aufzeigen.“
Breite Datenbasis – Standardwerk der Religionssoziologie
Die Studie „Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich“, die als Standardwerk der Religionssoziologie gilt, basiert auf einem reichhaltigen Datenmaterial aus weiten Teilen West- und Osteuropas, Süd- und Nordamerikas sowie Asiens und filtert politische, nationale und soziale Einflussfaktoren auf Religion heraus. Die Forscher nehmen Fallstudien für Italien, die Niederlande, Ost- und Westdeutschland, Polen, Russland, die USA, Südkorea und Brasilien vor und ziehen aus dem Vergleich zwischen diesen Ländern verallgemeinerbare Schlussfolgerungen. Sie zeichnen detailreich ein Panorama des religiösen Wandels in verschiedenen Gesellschaften nach. Dabei werden aktuelle Analysen durch historische Perspektiven ergänzt (vgl. zentrale Befunde unten).
Einbezogen ist eine Vielzahl an repräsentativen Datensätzen aus verschiedenen Zeiträumen: die World Values Survey (WVS), das International Social Survey Programme (ISSP), die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung, die General Social Survey (GSS), die weltweiten Befunde des Pew Research Centers, von den Forschern selbst durchgeführte Umfragen bei in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslimen sowie kirchliche und staatliche Statistiken. Detlef Pollack: „Die Studie verzichtet darauf, eine universelle Theorie zu entwickeln, in die alle Faktoren des religiösen Wandels integrierbar sind, sondern vereint stattdessen unterschiedliche Theorieperspektiven.“ (fbu/vvm)